Das wir gewinnt

„Wir müssen die Sonderwelten überwinden“

Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen, erklärt, wie sich ihre Partei in für mehr Inklusion und Teilhabe einsetzt und welche Ziele sie für die kommende Legislaturperiode verfolgt.
Eine Frau mit mittellangen blonden Haaren schaut in die Kamera. Sie trägt einen blauen Schal, eine blaue Bluse und eine Strickjacke.

Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen.

Über

Die gebürtige Osnabrückerin Corinna Rüffer gehört seit 2013 dem Deutschen Bundestag an, und ist Sprecherin für Behindertenpolitik und Bürgerangelegenheiten der Grünen-Bundestagsfraktion. Außerdem ist sie Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Bundestags und im Petitionsausschuss. Auch im Gesundheits- und Bildungsausschuss ist sie als stellvertretendes Mitglied aktiv.
Inklusion ist für mich ein Strukturprinzip für die Weiterentwicklung der Gesellschaft. Alle Bereiche der Politik müssen sich viel intensiver und in vernetzter Weise damit auseinandersetzen. Das Leitbild dafür ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2009 ratifiziert hat. Würde sie konsequenter umgesetzt, würde unsere Gesellschaft sehr viel humaner werden. Das würde allen Menschen guttun.

Die Schwerpunkte in der parlamentarischen Arbeit orientieren sich häufig an den Gesetzgebungsprozessen, die von der Regierung vorgegeben werden. Leider passierte da nicht viel in Bezug auf Inklusion. Zu den Themen, die ich selbst gesetzt habe, gehört zum Beispiel das Thema Rechte. Wie können wir erreichen, dass Menschen mit Behinderung leichter an Leistungen kommen, die ihnen zustehen? Wie kann man das System entbürokratisieren, damit Menschen mit Behinderung nicht ständig mit Behörden kämpfen müssen? Dazu habe ich eine Umfrage in verschiedenen Bereichen gemacht, zum Beispiel zu Erfahrungen mit Eingliederungshilfe, Gesundheitssystem, Schulbegleitungen, Arbeitsmarktsystem, Hartz IV etc. Viele Menschen mit Behinderung haben sich daran beteiligt und von gravierenden Problemen berichtet. Leistungsrechte werden sehr häufig nicht gewährt. Die Leute müssen Widersprüche einlegen und vor Gerichte ziehen, wenn sie die Kraft dazu haben. 

Auch das Thema der Barrierefreiheit beschäftigt mich schon sehr lange. Leider ist die Mehrheit im Bundestag nicht bereit, umzusetzen, was in anderen Ländern schon gängige Praxis ist, nämlich die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit zu verpflichten. 
Ein weiteres großes Thema, das mich bewegt, ist die Deinstitutionalisierung, also die Überwindung von Sonderwelten für Menschen mit Behinderung. Laut UN-Behindertenrechtskonvention hat jeder Mensch ein Recht darauf, zu entscheiden, wie und wo er leben möchte. Wir setzen uns dafür ein, dass Mängel im Bundesteilhabegesetz behoben werden, damit diese Rechte endlich umgesetzt werden.

Es ist unheimlich schwer, aus der Opposition heraus Mehrheiten zu erringen. Allerdings ist es möglich, den öffentlichen Fokus auf Themen zu richten. Ich denke, das ist uns gut gelungen, zum Beispiel bei den gerade erwähnten Themen. In kleineren Bereichen kann man aber auch tatsächlich Verbesserungen bewirken, zum Beispiel bei der Assistenz im Krankenhaus. Zumindest für die Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf und vornehmlich kognitiven Beeinträchtigungen gibt es jetzt eine Finanzierungsgarantie, damit sie ihre Assistenz mit ins Krankenhaus nehmen können. Das ist auch dem hohen Engagement meiner Fraktion zu verdanken. In der Pandemie hat sich gezeigt, dass das überlebenswichtig sein kann. Wir wissen, dass in Regionen mit sehr hoher Inzidenz Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zum Teil gar nicht mehr in den Krankenhäusern aufgenommen wurden. Oder dass sie ihre Assistenz nicht mitnehmen konnten. So konnten sie nicht adäquat versorgt werden.

Das hat auch mit den erwähnten Sonderwelten für Menschen mit Behinderung zu tun. Wir haben viel aufzuarbeiten, was den Umgang mit der Pandemie anbelangt. Wir wissen heute, dass sehr viele Menschen gestorben sind, die in Einrichtungen gelebt haben. In erster Linie natürlich in Pflegeeinrichtungen, aber auch in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Alle Orte, in denen viele Menschen gesammelt unterkommen, sind gefährdet, also auch Gefängnisse oder Einrichtungen für Asylbewerber*innen. Nicht nur die Pandemie macht das deutlich, sondern auch die jüngsten Morde an Menschen mit Behinderung in einer Einrichtung in Potsdam. Bei den Überschwemmungen an der Ahr sind zwölf Menschen mit Behinderungen in einer Einrichtung ungeschützt ertrunken. Wir müssen uns jetzt dringend Gedanken darüber machen, wie wir diese Einrichtungen auflösen können und wie wir ein volles Wunsch- und Wahlrecht umsetzen können. Das war ein Thema, das in der Pandemie zu keinem Zeitpunkt im Fokus stand, das wir jetzt aber unbedingt öffentlich debattieren müssen.

Ein weiteres Thema ist die Impfpriorisierung. Während Leute, die in Werkstätten arbeiten oder in stationären Einrichtungen untergebracht sind, bei der Impfpriorisierung ganz vorne standen, hat man diejenigen, die selbstbestimmt mit Assistenz zuhause leben, schlicht außen vor gelassen.
Wir müssen auch über das Thema Triage sprechen, also, wer eine intensivmedizinische Versorgung bekommen hätte, wenn die Zahlen weiter gestiegen wären. Intensivmediziner hatten Empfehlungen formuliert, bei denen Menschen mit Behinderung hinten runtergefallen wären. Deswegen läuft nach wie vor eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.

An den Sterbezahlen in der zweiten Welle sieht man, dass viele Menschen aus Einrichtungen gar nicht mehr in die Krankenhäuser beziehungsweise auf die Intensivstationen gebracht worden sind. Diese brutalen Arten von Benachteiligungen und Diskriminierungen hätte ich mir vor der Coronapandemie gar nicht vorstellen können. Das muss jetzt aufgearbeitet werden und Konsequenzen haben.

Das Thema Inklusion ist offensichtlich ein Querschnittsthema. Hier ist nicht nur das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefragt. Programme zur energetischen Sanierung sollten zum Beispiel mit Barrierefreiheit verknüpft werden. Der Bereich Kinder- und Jugendhilfe, der Bildungsbereich, Mobilität und Tourismus oder auch Entwicklungshilfe: Man muss alle diese Schnittstellen inklusiv weiterentwickeln. Ich kann das als behindertenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion natürlich nicht alleine, sondern ich bin darauf angewiesen, dass die Kolleginnen und Kollegen das Thema im Blick haben.
Ich würde sagen, dass mein Büro ziemlich bunt ist und vielfältig. Ich habe einen Mitarbeiter, der über das Budget für Arbeit beschäftigt ist, und weitere Mitarbeiter*innen, die eine Behinderung haben. Die Vielfältigkeit der Lebenserfahrungen, die damit in das Team einfließen, bereichert die Arbeit sehr. Für den Bundestag gilt das leider nicht. Der Deutsche Bundestag wird ja gewählt, um die Breite der Gesellschaft zu repräsentieren. Aber in Bezug auf den beruflichen oder Bildungshintergrund seiner Mitglieder, in Bezug auf Männer und Frauen, auf Menschen mit Migrationshintergrund, auf Menschen mit Behinderung oder arme Menschen ist der Bundestag leider überhaupt nicht repräsentativ. Es fehlen einfach Lebenserfahrungen und damit auch Möglichkeiten, sich empathisch bestimmten Lebenslagen zuzuwenden.
Das kommt auf Mehrheiten, auf Konstellationen und auf Prioritäten und so weiter an. In unserem Bundestagswahlprogramm ist das Thema klar als Priorität festgeschrieben. Und wir werden sehr ernsthaft mit möglichen Koalitionspartnern darüber verhandeln. 
Das Thema ist für mich überfällig. Auf europäischer Ebene wird darüber viel intensiver und realitätsnäher diskutiert. Ich habe den Eindruck, wir sind da in Deutschland noch in den 1970er-Jahren steckengeblieben.
Ganz deutlich: nein! Es ist absolut überfällig, dass Behindertenwerkstätten transformiert werden in ein System inklusiver Beschäftigung. Menschen, die dort arbeiten, sind nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt, man verweist sie im Zweifelsfall auf die Grundsicherung. Es heißt, es seien Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation, aber weniger als ein Prozent der Beschäftigten schafft den Übergang auf den regulären Arbeitsmarkt. Viele Menschen, die dort arbeiten, sagen: Sie wollen das eigentlich nicht, aber sie sehen keine Alternative und bekommen keine Unterstützung. Durch ihre Biografie sind sie dort hineingeraten und bleiben in Sondereinrichtungen von der Wiege bis zur Bahre. Sie verdienen durchschnittlich 1,35 Euro pro Stunde. Mein Mitarbeiter, der Lukas Krämer, der selbst fünf Jahre lang in einer Werkstatt gearbeitet hat, hat deshalb eine Petition für Mindestlohn in Werkstätten gestartet. Diese Einrichtungen werden ihrem gesetzlichen Anspruch nicht gerecht. Als demokratische Gesellschaft, die die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, sind wir gefordert, dieses System weiterzuentwickeln. Wir müssen das gemeinsam mit den Beschäftigten in den Werkstätten machen und nicht über ihre Köpfe hinweg. Wir sollten ein System von Inklusionsunternehmen entwickeln, in dem Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden. So ist es leichter, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln. Ich wünsche mir, dass die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention insgesamt vorankommt, mit konkreten Schritten, Maßnahmen und Zeitplänen und mit breiter Unterstützung von Menschen mit Behinderung und ihren Selbstvertretungsorganisationen im Rahmen einer Enquetekommission im Deutschen Bundestag. In den letzten Jahren ist der Prozess ins Stocken geraten. Es gibt sogar wieder eine Rhetorik im Deutschen Bundestag, die Schutzräume wie Förderschulen und Werkstätten befürwortet. Das ist aus meiner Sicht inakzeptabel. Wir müssen das überwinden, ganz dringend!

Weitere Interviews

Im Interview beantworten die behinderten- und teilhabepolitischen Sprecher*innen verschiedener Parteien Fragen rund um das Thema Inklusion. Hier finden Sie alle Interviews im Überblick.