Das wir gewinnt

Empowerment: Im richtigen Moment Nein sagen

Wenn Versicherungen oder Behörden Leistungen zur Teilhabe ablehnen, ist das längst nicht immer berechtigt. Sich mit juristischen Mitteln dagegen zu wehren, kann daher sehr sinnvoll sein. Allerdings ist ein solcher Streit oft ziemlich anstrengend. Viele fragen sich deshalb: „Habe ich dazu überhaupt genügend Kraft?“ Dr. Gisela Hermes meint: Man sollte nicht kampflos aufgeben. 

 Wer wegen einer Behinderung oder einer chronischen Erkrankung auf Leistungen angewiesen ist, hat in der Regel kein gutes Gefühl, wenn ein Umschlag mit dem Absender einer Krankenkasse, Versicherung oder Behörde im Briefkasten liegt. Manche Menschen spüren in so einem Moment bloß Herzklopfen, andere sogar echte Panik. Vielen Empfängern von Leistungen flößt der Umgang mit Behörden Angst ein. Das geht so weit, dass manch eine*r lieber auf berechtigte Leistungen verzichtet, als gegen einen ablehnenden Bescheid Widerspruch oder Klage einzureichen.

Dafür gibt es gute Gründe. Schließlich berichten Menschen, die sich gegen eine ungerechte Behandlung juristisch gewehrt haben, häufig davon, wie kraft- und vor allem nervenaufreibend es ist: wiederholtes Verfassen von Schreiben und Ausfüllen von Formularen, sich lange hinziehende Gerichtsverfahren oder gar das Hinnehmen von Rückschlägen. Oft berichten diese Menschen aber noch von etwas Anderem: Nämlich wie gut es ihnen im Nachhinein getan hat, wenn sie sich erfolgreich wehren konnten. Wie ermutigend es ist, etwas bewirkt zu haben. Und wie sehr ihr Selbstvertrauen dadurch gewachsen ist. Kurz: Wie sie trotz aller Anstrengung am Ende gestärkt aus dem Verfahren hervorgingen.

Das Konzept der Selbstwirksamkeit

Der tiefgreifende Effekt der Erfahrung, selbst etwas Positives für sich erreichen zu können, ist seit langem bekannt. Psychologen sprechen von Selbstwirksamkeit. Es bedeutet, daran zu glauben, dass man schwierige Lebenssituationen durch eigenes Handeln beeinflussen kann. Das Konzept wurde in den 1970er Jahren von dem kanadischen Psychologen Albert Bandura entwickelt. Als wichtigste Grundlage von Selbstwirksamkeit nennt er „die eigene direkte Erfahrung, etwas erreicht zu haben“. Auf diese Erfahrung kann man aufbauen. Denn jede weitere gemeisterte Herausforderung verstärkt das Zutrauen zu sich selbst erneut.

 Für jemanden, der oder die sich erfolgreich gegen einen zunächst abgelehnten Leistungsanspruch gewehrt hat, heißt das: Beim nächsten Mal wird er oder sie eine solche Situation wahrscheinlich mit mehr Selbstvertrauen angehen. Und hieraus folgt ein weiterer günstiger Effekt: Wenn ein Mensch daran glaubt, mit schwierigen Situationen fertig zu werden, wird er diese mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch besser überstehen, als wenn er sich hilflos fühlte. Falls er am Ende dennoch scheitert, kann er sich immerhin sagen, dass er nicht kampflos aufgegeben hat. Wer seine Ansprüche hingegen vorschnell aufgibt, verzichtet nicht nur von vornherein auf nötige Leistungen oder Wiedergutmachungen, sondern auch auf mögliche positive Erfahrungen.

Mut und Kraft im Kampf um die eigenen Rechte 

Doch was tun, wenn man nicht von Natur aus zu den Mutigen und Durchsetzungsfähigen gehört? Wie kann man dann die Kraft und den Mut finden, die eigenen Rechte - wenn nötig - erstreiten zu wollen? Diese Frage stellen sich nicht zuletzt Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung wiederholt Demotivation, Geringschätzung und Bevormundung erfahren haben. Gisela Hermes, Professorin für Rehabilitation und Gesundheit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim (HAWK), stellt fest: „Eine defizitorientierte Sichtweise auf behinderte Menschen und ein bevormundendes Hilfesystem lässt wenig Spielraum für selbstbestimmte Entscheidungen und Lebensführung.  Das führt allzu oft zu einer Entmutigung und Unfähigkeit der Betroffenen, eigene Bedürfnisse zu identifizieren und ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.“

Portrait einer Frau mit kurzen grauen Haaren und Brillen

Gisela Hermes

Professor Dr. Gisela Hermes ist Professorin für Rehabilitation und Gesundheit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim (HAWK) und Vorstandsmitglied bei Netzwerk Artikel 3. Darüber hinaus ist sie Mitglied der Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen sowie ehemalige Mitgründerin und Leiterin des Bildungs- und Forschungsinstituts zum selbstbestimmten Leben Behinderter (kurz bifos e.V.). Gisela Hermes blickt auf eine langjährige praktische Erfahrung mit dem Empowerment von Menschen mit Behinderung in Form von Peer Beratung, Weiterbildungen, Seminaren und Kongressen zurück.

Empowerment hat immer eine individuelle und eine gesellschaftspolitische Dimension

Gisela Hermes

Peer-Counseling-Prinzip

Die gute Nachricht: Man kann die Kraft zur Verteidigung der eigenen Rechte in sich selbst finden oder besser: entwickeln. Hierfür braucht man allerdings andere Menschen, die einen dabei unterstützen. Schon Albert Badura hatte erkannt, dass sich Selbstwirksamkeit zwar am Besten durch eigene Erfahrungen entwickelt, dass sie aber auch „durch die Beobachtung entsprechender Erfahrungen anderer Personen entstehen kann“. Nur sollten die anderen Personen „einem selbst möglichst ähnlich sein“. Auf diesem Prinzip beruht auch das Peer-Counseling : Die Beratung und Unterstützung von Menschen mit Behinderung durch Menschen mit Behinderung wird in der Behindertenselbsthilfe schon seit langem erfolgreich praktiziert. Und auch die relativ neuen Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungen (EUTB) setzen auf diese Form der Unterstützung, die von Verständnis, Vertrauen und Ermutigung geprägt ist. Im Peer Counseling Prozess geht es nicht zuletzt darum, die Bedürfnisse der Ratsuchenden zu identifizieren und sie dazu zu ermutigen, für ihre Interessen einzutreten und im richtigen Moment Nein zu sagen.

Kraft und Mut durch Empowerment 

Insofern ist Peer Counseling ein wichtiges Instrument des Empowerments. Empowerment, das heißt zunächst einmal Ermächtigung. Es kann auch eine gegenseitige Ermächtigung und Ermutigung sein, indem man soziale Netzwerke bildet oder sich solchen anschließt. Empowerment wird in Kursen angeboten oder eben in Beratungsstellen geleistet. In jedem Fall sollen Menschen dadurch befähigt werden, für ihre eigenen Rechte einzutreten und – sofern nötig und möglich – auch zu kämpfen. Gisela Hermes erklärt es so: „Empowerment umfasst Strategien und Maßnahmen, die Menschen dabei helfen, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen. Die Menschen sollen in die Lage versetzt werden, ihre Belange zu vertreten und zu gestalten.“  Empowerment ist also eine Antwort auf die Frage, wie man die Kraft und den Mut finden kann, die eigenen Rechte erstreiten zu wollen.

Viele Einzelne kämpfen für das große Ganze

Es geht jedoch nicht nur um die Stärkung des Einzelnen. Zugleich wird auch ein gesellschaftspolitisches Ziel verfolgt. „Empowerment hat immer eine individuelle und eine gesellschaftspolitische Dimension“, erklärt Gisela Hermes. „Um marginalisierten Menschen Selbstbestimmung zu ermöglichen, ist auch eine Veränderung gesellschaftlicher Strukturen notwendig.“ Indem viele Einzelne in die Lage versetzt werden, für ihre Rechte einzustehen, wandelt sich auch das große Ganze: Je mehr Menschen sich gegen eine ungerechte Behandlung wehren, desto eher ändert sich etwas zum Besseren. Denn rechtliche Klärungen wirken auf das Vorgehen von Behörden und Versicherungen. Wer sein Recht vor Gericht einklagt, hilft somit langfristig auch anderen Menschen.

Online-Handbuch Empowerment ISL 

Im Online-Handbuch Empowerment der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben  in Deutschland e.V. (ISL)  erfahren Sie mehr zum Thema Empowerment von Menschen mit Behinderung oder chronischen Krankheiten in der gesundheitlichen Selbsthilfe.

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