Das wir gewinnt
Ein Mann mit Sportprothese sitzt auf dem Boden eines Sportplatzes und bindet sich den Schuh zu.
Junger Mann mit in Sportkleidung und mit Cappy sitzt auf dem Boden und bindest sich den Schuh. Am rechten Bein hat er eine Unterschenkelprothese
Junger Mann mit in Sportkleidung und mit Cappy sitzt auf dem Boden und bindest sich den Schuh. Am rechten Bein hat er eine Unterschenkelprothese

Hilfsmittel­ver­sorgung im Sport: Wer zahlt?

Die Hilfsmittelversorgung ist für Menschen mit Behinderung, die Sport treiben möchten, oft ein Problem. Krankenkassen weigern sich meist, die nötige Sportprothese oder den erforderlichen Sportrollstuhl zu bezahlen. Hier erfahren Sie, warum – und welche alternativen Wege der Finanzierung es gibt.
Tanja Höfler möchte wieder joggen. Dafür benötigt die 24-Jährige, deren rechtes Bein vor einigen Jahren amputiert werden musste, eine Sportprothese. Denn die Alltagsprothese, die sie nutzt, ist zum Sporttreiben ungeeignet. Mit ihr würden die Stöße beim Laufen ungedämpft auf ihren Beinstumpf einwirken. Außerdem sind Alltagsprothesen im Vergleich zu Sportprothesen wesentlich schwerer. Auch das Abrollen des Fußes ist nicht möglich. (Die genauen Unterschiede zwischen Sport- und Alltagsprothese erklärt Paralympics-Star Heinrich Popow hier im Interview.)
Icon eines Paragraphen.

Die Förderung des Freizeitsports und des Vereinssports gehört (...) nicht zu den Aufgaben der Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung.

Aus dem Urteils des Bundessozialgerichts vom 21.03.2013

Die deutlich teurere Alltagsprothese für rund 70.000,- Euro hat Tanja Höflers Krankenkasse bewilligt, den Antrag auf eine Sportprothese, die rund 10.000,- Euro kostet, jedoch abgelehnt. Begründung: Krankenkassen müssten nur die Kosten für jene Hilfsmittel übernehmen, die notwendig sind, um die Grundbedürfnisse eines Menschen abzudecken. Freizeit- oder Vereinssport zu treiben, gehöre nicht zu diesen Grundbedürfnissen. Breiten- und Leistungssport sei, im Gegensatz zu Rehasport, ein spezielles Mobilitätsbedürfnis, für das Krankenkassen nicht zuständig seien. Dieser Haltung der Krankenkassen hat sich auch das Bundessozialgericht in einem Urteil aus dem Jahr 2013 angeschlossen (siehe Kasten unten).

Anders beurteilt das Bundessozialgericht die Frage allerdings bei Kindern und Jugendlichen. Damit sie beispielsweise am Schulsport teilnehmen oder sich "in den Kreis Gleichaltriger" integrieren können, sieht es in diesen Fällen doch die Krankenkassen in der Pflicht, die dafür erforderlichen Hilfsmittel zu übernehmen.

Was ist ein Hilfsmittel, was nicht? Sozialrechtler Christian Au erklärt.

Petition fordert Hilfsmittelversorgung im Sport durch die Krankenkassen

Mit einer Online-Petition an Bundesgesundheitsminister Lauterbach möchte Tanja Höfler nun erreichen, dass die Bundesregierung die Krankenkassen doch in die Pflicht nimmt, künftig auch Sportprothesen für Beinamputierte zu bezahlen. Im Petitionstext schreibt Höfler: „Laufen ist der optimale Sport, um Körper und Geist erwiesenermaßen fit, gesund und auch jung zu halten. Laufen ist aber auch ein wesentlicher therapeutischer Baustein bei Erkrankungen z.B. des Herz-Kreislaufsystems, Diabetes, bei Depressionen oder Angststörungen. Laufen bedeutet Lebensqualität! (...) Als beinamputierter Mensch möchte ich auch diesen Sport ausüben, einfach mit anderen Menschen joggen, nicht ausgegrenzt sein.“ Fast 45.000 Menschen haben ihre Petition bis Ende März 2023 unterschrieben.

Der erste Schritt nach der Ablehnung eines Hilfsmittel-Antrags: Widerspruch

Die Initiative von Tanja Höfler hat dem Thema Hilfsmittelversorgung im Behindertensport neue Aufmerksamkeit verschafft. Ob sie ihr Ziel erreicht und die Krankenkassen letztlich wirklich dazu verpflichtet werden, künftig die Kosten für Sportprothesen, Spezial-Rollstühle und andere Hilfsmittel zu übernehmen, bleibt abzuwarten. Aber auch wenn nicht: Die Ablehnung eines Antrags auf Hilfsmittelversorgung durch eine Krankenkasse ist keine Endstation, sagt Christian Au, Fachanwalt für Sozialrecht aus Buxtehude und selbst sportbegeisterter Rollstuhlfahrer. Er berät seit vielen Jahren Menschen mit Behinderung, die um die Finanzierung ihres Sport-Hilfsmittels kämpfen. „Ich würde nicht sagen, dass Krankenkassen generell keine Hilfsmittel im Sport bezahlen müssen.“ Meint Au und verweist dabei auf ein Urteil des Landessozialgerichts Bayern von 2019 (siehe Infokasten), das seiner Meinung nach die Tür wieder öffnen für eine Kostenübernahme durch Krankenkassen. Es kommt also wie so oft auf den Einzelfall an, ob und welche Hilfsmittel genau eine Krankenkasse eventuell doch übernehmen muss.
Ein Mädchen auf Schlittschuhen steht auf einer Eisbahn neben einem Jungen im Rollstuhl. Der Rollstuhl steht auf einem Eisgleiter.

Widerspruch? So geht's.

Lehnt die Krankenkasse einen Antrag ab, haben Antragssteller*innen in der Regel einen Monat lang Zeit, um dagegen Widerspruch einzulegen. Der Widerspruch muss schriftlich erfolgen, am besten per Einschreiben. Alternativ kann er auch mündlich in einer Filiale der Kasse vorgetragen und dabei von Mitarbeitenden protokolliert werden. Ein Widerspruch per Telefon oder E-Mail ist nicht möglich. Sollte auch der Widerspruch von der Kasse abgelehnt werden, haben Versicherte noch die Möglichkeit, binnen eines Monats Klage vor dem zuständigen Sozialgericht zu erheben. Das Verfahren ist kostenfrei und kann ohne einen Rechtsanwalt durchgeführt werden. 

Eingliederungshilfe als alternativer Weg der Kostenübernahme

Abgesehen davon gibt es aber noch einen anderen Weg, über den Menschen mit Behinderung an das benötigte Sport-Hilfsmittel kommen können. Nur ist der, sagt Rechtsanwalt Au, vielen nicht bekannt. „Man muss immer daran denken, dass bei einer Ablehnung [durch die Krankenkasse, Anm. d. Red.] die Eingliederungshilfe als Leistung der sozialen Teilhabe ins Spiel kommt“, rät Christian Au. Über die Eingliederungshilfe, geregelt im neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX), sollen Menschen mit Behinderung die Leistungen erhalten, die sie brauchen, „um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern“ (§ 1 SGB IX). Und dazu zählt gemäß den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (Artikel 30, Absatz 5 UN-BRK) explizit auch „die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten“. Allerdings ist, wie immer bei Sozialleistungen, der Umfang der Kostenübernahme von der Vermögens- und Einkommenssituation des oder der Antragsteller*in abhängig. Jedoch haben sich die Grenzen, ab welchem Einkommen oder Vermögen sich Antragsteller*innen an den Kosten beteiligen müssen, in den vergangenen Jahren deutlich zu ihren Gunsten verschoben (konkrete Zahlen nennt Christian Au im Interview).

Rechtlich ist festgelegt, dass Eingliederungshilfe nur nachrangig gewährt werden kann. Das heißt: Die Kostenübernahme für Hilfsmittel muss zwingend zunächst bei der Krankenkasse beantrag werden. Erst wenn die ablehnt, kommt die Eingliederungshilfe in Betracht. Damit Antragsteller*innen nicht selbst mit ihrem Antrag von Tür zu Tür laufen müssen, sieht das Gesetz vor, dass die ablehnende Krankenkasse den Antrag automatisch an den zuständigen Träger der Eingliederungshilfe weiterleiten soll. Tut sie das nicht, muss eigentlich sie selbst die Kosten der Eigliederungshilfe tragen. „Ein Antrag und die Sache sollte eigentlich laufen“, fasst Au die Rechtslage zusammen.
 
Eine Frau mit Wollmütze schließt die Schiebetür eines großen weißen Autos, in dem zwei Kinder sitzen.

Transport und Assistenz sind ebenfalls mögliche Leistungen der Eingliederungshilfe

Bei der Ermöglichung von Behindertensport geht es oft um mehr als um eine Hilfsmittelversorgung. Gerade die Frage, wie man regelmäßig zum Training und eventuell noch zu Wettkämpfen kommt, stellt viele Sportler*innen mit Behinderung vor große Probleme – besonders in ländlichen Regionen. In der Eingliederungshilfe wird dem Rechnung getragen indem gegebenenfalls auch die Kosten für nötige Assistenz- und Transportleistungen übernommen werden können (§ 78 SGB IX). 
Die im Gesetz erwähnten Assistenzleistungen können so vielfältig sein wie der Behindertensport selbst. Anwalt Christian Au, seit ein paar Jahren passionierter Segler, prüft beispielsweise gerade, ob Hilfeleistungen beim Aufstellen des Mastes seiner Jolle als Assistenzleistung anerkannt werden können. Auch Guides beim Blindenfußball, die vom Spielfeldrand aus den Spieler*innen akustische Signale zur Orientierung zurufen, sieht Au durchaus als Assistenz.

Auch Vereine können aktiv werden bei der Hilfsmittelbeschaffung

Abgesehen von den Möglichkeiten, die jede*r Einzelne hat, um das benötigte Sportgerät zu bekommen, können natürlich auch die Sportvereine ihre Mitglieder bei der Hilfsmittelversorgung unterstützen. Viele, gerade die mit größeren inklusions- oder Behindertensport-Abteilungen, tun das auch.
  • Beispielsweise können Vereine an Privatpersonen oder Unternehmen herantreten, um sie als Sponsoren für die Hilfsmittelversorgung ihrer Mitglieder zu gewinnen.
  • Oder sie stellen Förderanträge bei Stiftungen (hier gibt es eine Übersicht geeigneter Adressen).
  • Neben Stiftungsgeldern können Vereine auch Mittel aus den kommunalen Bußgeldfonds beantragen. So haben beispielsweise Rollstuhl-Sportler*innen eventuell doch etwas davon, wenn jemand falsch auf einem Behindertenparkplatz gestanden und dafür ein Knöllchen erhalten hat.
Die Rollstuhlbasketballabteilung des Hamburger Sport-Vereins (HSV) beispielsweise, die BG Baskets, war über diese Wege sehr erfolgreich, wie der Koordinator der BG Baskets, David Schulze, berichtet. Für den Nachwuchs habe man inzwischen ein eigenes Inventar von Sportrollstühlen, erzählt Schulze. Besonders stolz ist Schulze auf den neuen "TranSPORTbus" seiner Abteilung. Der Kleintransporter, der auch von Rollstuhlnutzer*innen gefahren werden kann, ist in erster Linie für den Transport der Sportrollstühlen der BG-Baskets-Teams gedacht. Brauchen die Baskets ihn aber nicht, kann der Bus auch sportart- und sogar vereinsübergreifend von anderen Interessent*innen für Transporte genutzt werden, die im Zusammenhang mit  Rollstuhlsport oder ganz allgemein inklusiven (Sport-)Veranstaltungen stehen. Reservierungen für den "TranSPORTbus" erfolgen nach einer Registrierung über eine Buchungs-App, wie in anderen bekannten Carsharing-Systemen. Eine Lösung ganz nach dem Geschmack von David Schulze: Innovativ und inklusiv.

Urteile zur Kostenübernahme von Sporthilfsmitteln

Hilfsmittel für Sport und Freizeit (2013)

2013 urteilte das Bundessozialgericht (BSG), dass Versicherte gegenüber Krankenkassen keinen Anspruch auf die Versorgung mit Hilfsmitteln haben, die dazu dienen, sportlichen Aktivitäten in der Freizeit besser nachgehen zu können. (BSG, KR 3/1Urteil vom 21.03.2013 - B 3 2 R

Ausnahmen für sportliche Betätigung (2019) 

Das Landessozialgericht (LSG) Bayern nimmt 2019 auf die vorgenannte Entscheidung des BSG Bezug, kommt aber zu dem Schuss, dass das inzwischen veränderte Behinderungsverständnis, das dem Bundesteilhabegesetz zugrunde liegt, Ausnahmen von der Regel gebietet, "wenn normale Laufprothesen keine sportliche Betätigung ermöglichen." (LSG München, Urteil vom 30.04.2019 – L 4 KR 339/18)

Sportrollstuhl für Vereinssport (2020)

Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat 2020 entschieden, dass der Sozialhilfeträger verpflichtet ist, einen querschnittsgelähmten Mann als Eingliederungshilfe mit einem Sportrollstuhl zu versorgen, damit dieser am Vereinssport teilnehmen kann. Sportliche Betätigung in einem Verein diene in Deutschland der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. (SG Mannheim, Urteil vom 04.02.2020 - S 9 SO 1824/19)

Hilfsmittelversorgung von Kindern und Jugendlichen

Zur Hilfsmittelversorgung von Kindern und Jugendlichen: Im Fall eines Jungen, dessen Eltern mit der Krankenkasse über die Übernahme der Kosten für ein behindertengerechtes Fahrrad stritten, gab das BSG 2002 den Eltern Recht. In der Begründung heißt es: "Der durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich ist auf eine möglichst weit gehende Eingliederung des behinderten Kindes bzw. Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger ausgerichtet. (...) Es reicht deshalb aus, wenn durch das begehrte Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert wird." (BSG Urteil vom 23.07.2002 - B 3 KR 3/02 R

 

Beratung und Unterstützung

EUTB-Beratungsstellen helfen

Gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales sind in den vergangenen Jahren bundesweit rund 500 Anlaufstellen zu Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) entstanden, in denen in der Regel Menschen mit Behinderung als Expert*innen in eigener Sache Ratsuchende kostenlos und barrierefrei zu Fragen rund um Rehabilitations- und Teilhabeleistungen informieren und beraten.

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