Was steht im Koalitionsvertrag zum Thema Inklusion?
Was ist ein Koalitionsvertrag?
Ein Koalitionsvertrag ist ein Abkommen zwischen zwei oder mehreren politischen Parteien, die eine Regierungskoalition bilden. Er ist kein juristisch bindender Vertrag, sondern eine politische Vereinbarung mit Leitlinien und Eckpunkten. Ziel ist es, die Pläne der Regierung für die Öffentlichkeit transparent zu machen.
Ob und in welchem Umfang die vereinbarten Vorhaben umgesetzt werden, hängt unter anderem von der Haushaltslage und aktuellen Entwicklungen ab – wie zuletzt der Beginn des Ukrainekriegs 2022, der zu neuen politischen Prioritäten geführt hat.
An welchen Stellen wird Inklusion im Koalitionsvertrag mitgedacht?
Der Koalitionsvertrag widmet der Inklusion nicht nur ein eigenes Kapitel – auch in vielen anderen Bereichen wird das Thema aufgegriffen. Inklusion ist damit als Querschnittsthema verankert. Das bedeutet: Inklusion soll in allen gesellschaftlichen Bereichen mitgedacht werden – sei es im öffentlichen Nahverkehr, in der digitalen Infrastruktur oder in der Demokratieförderung.
Diese Herangehensweise wurde nach der Veröffentlichung des Vertrags unter anderem von Fachverbänden für Menschen mit Behinderung begrüßt. „Die Bundesregierung will eine inklusive Gesellschaft entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention voranbringen und die Barrierefreiheit mit einer Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes stärken”, heißt es in der Stellungnahme der Fachverbände.
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Themen des Koalitionsvertrags
Nach wie vor sind Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt benachteiligt und sehr viel stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als andere Arbeitnehmer*innen. Zur Verbesserung der Beschäftigungssituation für Menschen mit Behinderung plant die neue Bundesregierung deshalb unter anderem:
- Die Übergänge zwischen beruflicher Rehabilitation, Werkstätten, Inklusionsbetrieben und dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erleichtern,
- die Steuerung durch Reha-Träger zu verbessern,
- das Entgelt in Werkstätten zu erhöhen,
- Werkstätten durch die Ausgleichsabgabe stärker zu fördern.
Während die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) diese Maßnahmen begrüßt, warnt die Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen davor, dass dadurch die Förderung des inklusiven Arbeitsmarkts gefährdet sein könnte. Werkstätten für behinderte Menschen stehen seit langem in der Kritik, weil sie nicht den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) entsprechen. So nannte auch der CDU-Politiker und ehemalige Behindertenbeauftragte Hubert Hüppe die Pläne der neuen Bundesregierung in der Süddeutschen Zeitung einen „absoluten Rückschritt in Sachen Inklusion“.
Mit dem Vorhaben werden auch die Empfehlungen der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte nicht beachtet: Um die Rechte von Menschen mit Behinderung zu sichern, hatte die Monitoring-Stelle gefordert, Werkstattbeschäftigte als Arbeitnehmer*innen anzuerkennen und nach dem Mindestlohngesetz zu bezahlen. Außerdem sollte das Werkstattsystem grundsätzlich reformiert werden, um die Absonderung von Menschen mit Behinderung in Parallelwelten zu beenden.
Auch im Bereich Digitalisierung setzt die Regierung auf mehr Teilhabe:
- Die Belange von Menschen mit Behinderung sollen bei der Entwicklung digitaler Angebote und künstlicher Intelligenz berücksichtigt werden.
- Der Schwerbehindertenausweis soll digitalisiert werden.
- Teilhabechancen für Menschen mit komplexen Behinderungen sollen verbessert werden.
Die neue Bundesregierung will sich insgesamt dafür einsetzen, digitale Verwaltungsprozesse zu modernisieren. So soll es unter anderem ein digitales Portal geben, über das Bürger*innen staatliche Leistungen gebündelt und aus einer Hand beantragen können.
Allerdings gibt es auch Menschen, für die rein digitale Prozesse eine Hürde darstellen. Dazu heißt es im Koalitionsvertrag: “Wer den digitalen Weg nicht gehen will oder kann, erhält Hilfe vor Ort.” Wie diese Hilfe genau aussieht und welche Stellen zuständig sind, steht dort allerdings nicht. Deshalb weist unter anderem die AWO darauf hin, dass analoge Zugänge weiterhin sichergestellt werden sollten – gerade für Menschen in komplexen Lebenslagen, mit geringem Einkommen, Sprachbarrieren oder Unterstützungsbedarf.
„Wir entwickeln das Gesundheitswesen und die Pflegeversorgung barrierefrei und inklusiv weiter.“ So formuliert es der Koalitionsvertrag.
Konkret geplant ist unter anderem:
- Die Förderung mentaler Gesundheit, insbesondere bei jungen Menschen – etwa durch Aufklärung, niedrigschwellige Beratung für Eltern sowie Fortbildungen für Fachkräfte,
- eine geschlechts- und diversitätssensible Gesundheitsversorgung, auch für queere Menschen.
Kritik gibt es jedoch daran, dass die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung im Gesundheitswesen nicht ausdrücklich erwähnt werden – obwohl sie dort auf erhebliche Barrieren stoßen, wie etwa das Deutsche Institut für Menschenrechte betont: Menschen mit Behinderung “benötigen aufgrund ihrer Beeinträchtigungen oft spezielle Gesundheitsdienste. Spezifische Hürden schränken ihren Zugang zu Gesundheitsversorgung und -information jedoch erheblich ein. Dazu gehören unter anderem unzugängliche Ausstattung und Räumlichkeiten, Mangel an relevanten Gesundheitsleistungen, unzureichende Fähigkeiten oder eine negative Haltung des Gesundheitspersonals, Kommunikationsschwierigkeiten sowie Kosten (zum Beispiel für Transporte).”
Ein weiterer wichtiger Punkt im Koalitionsvertrag ist die Reform des Rehabilitationssystems: Leistungen zur Teilhabe sollen künftig nach dem Prinzip „Leistungen aus einer Hand“ gebündelt beantragt und bewilligt werden können – mit nur einer Ansprechperson und einem Antrag.
Bisher gibt es in Deutschland viel zu wenige bezahlbare, barrierefreie oder barrierearme Wohnangebote für Menschen mit Behinderung. Laut Koalitionsvertrag soll deshalb einiges ändern „Wohnen wollen wir für alle Menschen bezahlbar, verfügbar und umweltverträglich gestalten“, heißt es dort.
Geplant sind:
- Schutz vor überhöhten Mieten,
- die Anpassung von Innenstädten und sozialer Infrastruktur an den Klimawandel und Barrierefreiheit,
- eine schrittweise Erhöhung der Investitionen in sozialen Wohnungsbau,
- zusätzliche Mittel für barrierefreies, altersgerechtes und „Junges Wohnen“.
Ein erster Umsetzungsschritt für diese Ziele ist das Gesetz zum sogenannten "Bau-Turbo" vom 16. Juni 2025: Das Gesetzespaket soll bürokratische Hürden abschaffen, damit Bebauungspläne ohne lange Verfahren schneller umgesetzt werden können. In einer Mitteilung des Bauministeriums heißt es, Ziel sei es, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen für Menschen, die besonders stark vom Wohnungsmangel betroffen sind, “wie beispielsweise Familien, Auszubildende, Studierende, ältere Menschen und Menschen mit geringem Einkommen”. Menschen mit Behinderung bleiben hier unerwähnt.
Wie wichtig das Thema barrierefreies Wohnen ist, erfahren Sie in unserem Beitrag “Barrierefreie Wohnung - oft eine Ausnahme".
Der Koalitionsvertrag bekennt sich zum gemeinsamen Lernen von Schüler*innen mit und ohne Behinderung: „Wir fördern Bildungsgerechtigkeit, Leistungsfähigkeit und Inklusion“, heißt es.
Im Bildungsbereich setzt die Regierung auf ein modernes, inklusives Bildungssystem, das die individuellen Bedarfe von Schüler*innen berücksichtigt. Ziel ist es, soziale Herkunft weniger stark über Bildungserfolg entscheiden zu lassen und die Zahl der Schulabgänger*innen ohne Abschluss zu senken. So will die neue Bundesregierung die Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen fördern und ihre Chancen beim Übergang ins Berufsleben verbessern. Für den Kita-Bereich sind Investitionen in Neubau, Ausbau und Sanierung vorgesehen – explizit auch im Hinblick auf Inklusion, Arbeitsschutz und Digitalisierung.
Der Koalitionsvertrag nennt den Abbau von Diskriminierung als Ziel, legt den Fokus jedoch stärker auf Altersdiskriminierung, Rassismus und geschlechtliche Vielfalt. Der spezifische Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderung wird an dieser Stelle nicht explizit betont. Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes soll fortgesetzt werden und der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus neu aufgelegt werden.
Kritik am Koalitionsvertrag
Mit der Veröffentlichung des Koalitionsvertrags meldeten sich verschiedene Verbände mit Kritik an den behindertenpolitischen Vorhaben der neuen Bundesregierung zu Wort.
So bemängelte zum Beispiel der Sozialverband VdK, dass private Anbieter nicht gesetzlich zur Umsetzung von Barrierefreiheit verpflichtet werden sollen. Konkret steht im Koalitionsvertrag nämlich, dass bis 2035 alle öffentlichen Gebäude barrierefrei gestaltet sein sollen. Auch in der Privatwirtschaft soll Barrierefreiheit gefördert werden – allerdings ohne verbindliche Vorgaben.
Organisationen wie die Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. (ISL) und der Deutsche Behindertenrat weisen außerdem darauf hin, dass vieles, das im Koalitionsvertrag steht, vage bleibt und unter Finanzierungsvorbehalt steht. Ob aus den Absichtserklärungen tatsächliche Verbesserungen für Menschen mit Behinderung entstehen, wird sich also in der Umsetzung zeigen müssen.
Statement von Corinna Rüffer (Grüne) zum Koalitionsvertrag
Corinna Rüffer
Corinna Rüffer (Grüne) gehört seit Oktober 2013 dem Deutschen Bundestag an und arbeitet dort für ihre Fraktion zum Thema Behindertenpolitik. Wir haben sie als Vertreterin der Opposition nach ihrer Einschätzung gefragt, wie die Aussagen zur Inklusion im Koalitionsvertrag zu bewerten sind.
„Der schwarz-rote Koalitionsvertrag bleibt im Bereich Behindertenpolitik viel im Ungefähren. Trotzdem enthält er einige positive Punkte. Dazu gehört etwa die Absichtserklärung, die Barrierefreiheit in öffentlichen Gebäuden zu verbessern. Gleichzeitig bleibt man hasenfüßig, wenn es darum geht, auch die Privatwirtschaft bei diesem Thema in die Pflicht zu nehmen.
Auch das Bekenntnis, dass mehr Menschen aus einer Werkstatt auf den Arbeitsmarkt wechseln können, wird schal angesichts der konkret verabredeten Förderung von segregierenden Einrichtungen wie Werkstätten und Wohnheimen aus der Ausgleichsabgabe. Diese Vereinbarung öffnet der Zweckentfremdung von Mitteln der Ausgleichsabgabe wieder Tür und Tor – gegen das Recht der behinderten Menschen auf inklusive Teilhabe am Arbeitsleben.
Aufhorchen muss man auch bei der Ankündigung, man wolle Bürokratieabbau bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes betreiben und Pauschalierungen prüfen. Angesichts der jüngsten Äußerungen des Kanzlers beim Kommunalkongress in Berlin, wonach Kostensteigerungen bei der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe wie in den vergangenen Jahren "nicht mehr akzeptabel" seien, weiß man doch genau, dass "Bürokratieabbau" hier nicht einfacherer Zugang bedeutet, sondern ein Deckmäntelchen für Kürzungen ist. Merz stößt damit ins selbe Horn wie die überörtlichen Träger der Eingliederungshilfe, die wegen Kassenlage auf Errungenschaften wie Selbstbestimmung und Personenzentrierung pfeifen und Menschen mit Behinderungen wieder ohne individuelle Bedarfsermittlung mit Pauschalleistungen abspeisen und nach Gutdünken Heimplätze belegen können wollen.
Als Grüne treten wir an der Seite von Verbänden und Zivilgesellschaft diesem Rollback entschieden entgegen. Im Interesse der Selbstbestimmung und Würde von Menschen mit Behinderungen brauchen wir mehr gesellschaftliche Inklusion und nicht weniger!“