Das wir gewinnt

Richter Jörn Trütner über Sozialrechtsklagen

Bei der Durchsetzung ihrer rechtlichen Leistungsansprüche stoßen Menschen mit Behinderung immer wieder auf Widerstände bei Krankenkassen, kommunalen Behörden und Rentenversicherungsträgern. Das belegen nicht zuletzt die vielen entsprechenden Klagen, die jährlich bei den Sozialgerichten landen. Wie sich das Problem aus Sicht der Justiz darstellt, darüber sprachen wir mit Jörn Trütner, Richter am Sozialgericht Hamburg.

Jedes Jahr legen Menschen mit Behinderung rund eine Million Mal Widerspruch ein gegen Bescheide von Ämtern, Behörden, Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern. Rund 450.000 Streitigkeiten landen alljährlich sogar als Klagen vor den Sozialgerichten. Oft gehen sie zugunsten der Kläger*innen aus. Sind die Sachbearbeiter*innen der Leistungsträger von der extremen Komplexität des Sozialrechts überfordert?

Die Erfolgsquote von Kläger*innen ist relativ hoch bei uns, das stimmt. Allerdings sehen wir ja nur die pathologischen Fälle. Mir liegen keine Zahlen darüber vor, wie viele Bearbeitungen die Leistungsträger insgesamt durchführen. Es ist natürlich schon so, dass auf Seiten der Leistungsträger häufig Fehler gemacht werden. Manchmal ergibt es sich sogar, dass wir, wenn wir den Sachverhalt genau prüfen, noch auf andere Fehler stoßen als ursprünglich von den Klagenden moniert. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Leistungsträgern. Die Bescheide und auch die Aktenführung vieler Sozialversicherungsträger sind handwerklich gut. Im Bereich der Grundsicherung ist es hingegen manchmal nicht so, wie wir uns das wünschen. Da kann man vermuten, dass manchmal die Qualifikation der Mitarbeiter nicht optimal ist. Zudem stehen die Menschen, die dort arbeiten, ja unter einem hohen Erledigungsdruck. Sie kämpfen mit hohen Fallzahlen.

Wie sieht es denn an den Sozialgerichten aus? Liegen die in der Regel langen oder sehr langen Verfahrensdauern von ein bis fünf Jahren auch an einer dortigen Überlastung wegen Personalknappheit?

Ja, das ist leider so. Wir wollen natürlich auch, dass die sozialen Rechte zeitnah verwirklicht werden. Aber das können wir nicht immer gewährleisten. Das liegt einerseits daran, dass so ein Verfahren per se eine gewisse Dauer hat. Aber natürlich auch daran, dass wir mehr Verfahren pro Kopf haben, als wir uns das idealerweise wünschen würden. Leider ist die Situation in meiner Kammer so, dass wir teilweise heute noch Verfahren aus dem Jahr 2017 bearbeiten.

Portrais eines Mannes im hellblauen Hemd

Jörn Trütner

Wenn die Leistungen wirklich sehr eilig und existenziell sind, steht den Beteiligten die Möglichkeit offen, einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu stellen. Hier gibt es innerhalb weniger Wochen eine Entscheidung.

Jörn Trütner

Was macht das eigentliche Verfahren denn so lang?

Wenn eine Klage eingeht, wird sie zuerst der Behörde zugestellt und wir fordern die Akten an. Natürlich setzen wir immer Fristen, zum Beispiel in den Hauptsachen eine Frist von einem Monat. Nach vier bis sechs Wochen wird mir die Sache wieder vorgelegt. Wenn dann medizinische Sachverhalte zu klären sind – was ja bei Menschen mit Behinderung häufig der Fall ist – beginnt die große Sachverhaltsaufklärung. Manchmal gibt es einen medizinischen Streit der Beteiligten. Dann ist es in aller Regel so, dass wir die behandelnden Ärzte anschreiben und möglicherweise weitere Akten hinzuziehen. Wenn wir alle medizinischen Unterlagen beisammen haben, wird unter Umständen das Gutachten eines Sachverständigen in Auftrag gegeben. Der Prozess der Sachverständigen-Begutachtung dauert nochmal mindestens drei Monate. Das Verfahren zieht sich also schon deshalb lange hin, weil wir gehalten sind, den Sachverhalt umfassend aufzuklären.

Die Antragssteller*innen, die ihr Recht einklagen, haben oft einen hohen Leidensdruck. Wenn sie etwa auf ein Hilfsmittel warten, das sie dringend benötigen, ist ein Jahr Wartezeit eine sehr lange Zeit.

Klar ist der Wunsch nach einer schnellen Entscheidung sehr verständlich. Aber wenn die Leistungen wirklich sehr eilig und existentiell sind, steht den Beteiligten die Möglichkeit offen, einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu stellen. Wenn es etwa darum geht, dass für ein Schuljahr eine Schulweghilfe erforderlich ist oder ein Schulbegleiter, dann kann man dies auch im Eilverfahren bei uns beantragen. Hier gibt es innerhalb weniger Wochen eine Entscheidung.

Können Sie sich in Ihrem Rechtsgebiet häufiger auf Präzedenzfälle berufen und so den Entscheidungsprozess beschleunigen?

Natürlich schauen wir, wie andere Gerichte entscheiden und wir schauen auch in unserem Haus. Unter uns Kollegen gibt es einen sehr guten fachlichen Austausch. Aber was Präzedenzfälle angeht, ist das ein bisschen schwierig. Das, was vom Bundessozialgericht entschieden wird, ist natürlich äußerst wichtig für uns. Und da gibt es zur Auslegung bestimmte Vorschriften und Entscheidungen, an denen wir uns natürlich orientieren wollen. Das entbindet uns jedoch nicht davon, unseren konkreten Fall anzuschauen. Und in der Eingliederungshilfe haben wir ganz unterschiedliche Fälle. Da verbietet sich jede Pauschalierung. Wir arbeiten uns an jedem Einzelfall ab und versuchen, die rechtlich richtige Lösung zu finden.

Was die Ermittlungstiefe angeht, so gehen wir eben meist noch ein paar Schritte weiter, als das unter Umständen bei der Entscheidung der Behörde der Fall gewesen ist.

Jörn Trütner

Können Sie schon absehen, ob es seit den verschiedenen Umsetzungsstufen des Bundesteilhabegesetzes häufiger zu juristischem Streit kommt?

Ob mit dem neuen BTHG mehr Klagen bei den Gerichten landen, ist jetzt noch nicht absehbar. Dazu ist es noch zu früh. Klageverfahren, die jetzt bei uns anhängig gemacht werden und bei denen sich die Menschen mit Behinderung zum Beispiel mit Trägern um Eingliederungshilfeleistungen streiten, sind noch nicht entscheidungsreif.

Würden Sie sagen, dass der Klageweg vor einem Sozialgericht in der Praxis wirklich von allen genutzt werden kann? Gibt es beispielsweise für Menschen mit einer Lernbehinderung ausreichend Unterstützungsangebote, um diesen Weg zu gehen?

In Hamburg gibt es ein breites Beratungsnetz für Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Und für einen niedrigschwelligen Zugang zum Gericht tun wir alles und versuchen, uns da auch immer weiter zu verbessern. Für mich sieht es nicht so aus, dass eine bestimmte Klientel ausgeschlossen wird. Dennoch will ich nicht ausschließen, dass es Menschen gibt, die allein gelassen sind. Denn wenn die Leute nicht zu uns kommen, dann kann ich ja nicht sehen, wer nicht kommt. Aber ich sehe, wer bei uns klagt und das ist ein sehr buntes Bild von Menschen in allen denkbaren Lebenssituationen. Man darf die Menschen nicht unterschätzen. Viele wissen sehr gut, wo sie welche Leistungen beantragen können, wenn sie sie brauchen. Und das ist auch richtig so.

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