Das wir gewinnt

Alle einsteigen, bitte!

Ein Bus fährt auf eine Haltestelle zu. Ihm entgegen kommen mehrere Autos.
Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr ist nicht nur eine Frage von baulichen Maßnahmen. Auch Mitarbeitende in Verkehrsbetrieben müssen auf die Anforderungen von Fahrgästen mit Behinderung eingestellt sein und ihnen kompetent begegnen können. Das entsprechende Know-how können Busfahrer*innen in Sensibilisierungsseminaren erwerben, die seit 2018 Pflicht sind. Was passiert bei diesen Veranstaltungen? Und was bringen sie für die Teilnehmenden? Ein Blick hinter die Kulissen.

Normalerweise sitzt Rudolf Egenhofer hinter dem Steuer eines Busses und chauffiert Fahrgäste durch Konstanz und Umgebung. Doch manchmal wechselt er die Perspektive und das Fahrzeug: Dann steuert er im Rollstuhl auf die rückwärtige Tür eines Busses zu, lenkt sein Gefährt über eine Rampe in den Innenraum und manövriert es – etwas ungeschickt – auf den markierten Rollstuhlstellplatz. „Seit ich das zum ersten Mal gemacht habe, weiß ich erst, wie schwierig es für Rollstuhlfahrer sein kann, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen“, sagt Rudolf Egenhofer. „Und wie wichtig es ist, dass ich im Berufsalltag meine Passagiere mit Behinderung besonders im Blick habe.“ Die Rollstuhlübung ist Teil einer Schulung, die Busfahrer*innen für den Umgang mit behinderten Fahrgästen sensibilisieren soll. Und nicht nur das: Die Fahrprofis lernen hier auch, wie sie ihr Fahrverhalten so optimieren können, dass Passagiere mit Behinderung einen Linienbus sicher und problemlos nutzen können.

Seit 2018 sind solche Fortbildungen Pflicht. Mindestens einmal in ihrer Berufslaufbahn müssen Busfahrer*innen eine „Schulung zum Umgang mit Menschen mit eingeschränkter Mobilität“ besuchen. Das geht auf die EU-Fahrgastrechte-Verordnung zurück, die 2011 beschlossen wurde und bis 2018 in allen EU-Ländern umgesetzt werden musste. Rudolf Egenhofer, der auf 30 Jahre Berufserfahrung zurückblickt, war auch schon vor 2018 und mehrmals dabei. Der Schulungspflicht liegt eine wichtige Erkenntnis zugrunde: Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) hängt nicht nur von abgesenkten Bordsteinen, Rollstuhlrampen und guten technischen Leitsystemen für Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung ab. Entscheidend ist auch, dass Fahrgäste mit Behinderung auf Personal treffen, das sie im Bedarfsfall richtig unterstützen kann – und weiß, dass diese Unterstützung kein Gefallen, sondern eine Pflicht ist. Verkehrsbetriebe können ihre Mitarbeitenden intern entsprechend schulen. Es gibt aber auch externe Seminaranbieter, die das notwendige Know-how vermitteln. Einer davon ist die combus Competence Mensch und Bus GmbH, die ihren Sitz im baden-württembergischen Böblingen hat.

Sensibilisierungstrainings: Rundumschlag mit Aha-Effekt

„Unsere Schulung dauert einen Tag, und die Inhalte sind sehr vielfältig“, erläutert Katja Fellmeth, die bei combus für die Fortbildungsveranstaltung verantwortlich ist. „Am Anfang schauen wir uns an, was mit dem Begriff ‚eingeschränkte Mobilität‘ eigentlich genau gemeint ist.“ Viele Teilnehmende denken dabei vor allem an Körper- oder Sinnesbehinderungen. Aber auch kognitive Einschränkungen, Sprachbehinderungen, psychische Erkrankungen und altersbedingte Einschränkungen zählen dazu. Das macht deutlich, wie viele Fahrgäste potenziell eine Behinderung haben und wie wichtig das Thema dementsprechend für die Fahrer*innen ist. „Diese Tatsache untermauern wir noch mit Statistiken, die zeigen, zu welchen Teilen Menschen mit Behinderungen in der Gesamtbevölkerung und unter den Fahrgästen vertreten sind“, sagt Katja Fellmeth. Auch Kommunikationstraining steht auf dem Stundenplan. „Dabei erklären und üben wir zum Beispiel, wie Busfahrer*innen richtig nachfragen, ob Menschen Hilfe benötigen oder nicht“, sagt Katja Fellmeth. Anschließend nehmen die Seminarteilnehmenden Barrieren im und um den Bus unter die Lupe – und erarbeiten, wie sie im Interesse ihrer Passagiere am besten damit umgehen. „Wie fahre ich sauber an eine Haltestelle heran? Wie platziere ich Rollstühle und Rollatoren sicher im Bus? Wie mache ich Fahrgäste mit einer Hör- und Sehbehinderung auf Haltestellen aufmerksam, wenn es kein audiovisuelles Leitsystem im Bus gibt? Das sind typische Fragen, auf die wir in diesem Teil des Seminars Antworten finden“, schildert Katja Fellmeth. Den Abschluss des Seminartages bilden die praktischen Sensibilisierungsübungen. Dabei können die Busfahrer*innen nicht nur ausprobieren, wie es ist, im Rollstuhl unterwegs zu sein und Hindernisse überwinden zu müssen. Das combus-Team hat auch Brillen und Ohrstöpsel dabei, mit denen sich Hör- und Sehbehinderungen simulieren lassen. „Dieser Perspektivwechsel löst bei unseren Teilnehmenden immer einen Aha-Effekt aus“, sagt Katja Fellmeth.

ÖPNV-Training für Menschen mit Mobilitätseinschränkung

Hilfreiche Schulungen gibt es nicht nur für Fahrer*innen: Die Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen e.V. (LAG) bietet ein Schulungs- und Trainingsprogramm für mobilitätseingeschränkte Nutzer*innen im Hamburger ÖPNV.

Das A und O bleibt eine geduldige und unverkrampfte Herangehensweise, das gilt für alle Fahrgäste.

Rudolf Egenhofer, Busfahrer

Sicherheit für den Berufsalltag

Das kann Busfahrer Rudolf Egenhofer nur bestätigen. „Seit ich selbst im Rollstuhl gesessen habe, kann ich viel besser nachvollziehen, was für behinderte Fahrgäste bei einer Busfahrt schwierig ist“, sagt er. „Ich weiß jetzt auch, wie ich am besten an eine Haltestelle heranfahre und den Bus absenke, damit das Einsteigen für Menschen mit Rollstuhl oder Rollator kein Problem ist. Und in den Kurven bin ich langsamer unterwegs als früher, weil ich selbst erlebt habe, wie leicht ein Rollstuhl umkippen kann. Solche Eindrücke bleiben nach der Schulung noch lange hängen.“ In seinen 30 Jahren als Busfahrer hat Rudolf Egenhofer natürlich schon viele Menschen mit Behinderung befördert und keine Berührungsängste mehr. „Das A und O bleibt eine geduldige und unverkrampfte Herangehensweise, das gilt für alle Fahrgäste. Trotzdem fühle ich mich durch die Schulung noch besser für meinen Berufsalltag ausgerüstet.“
So kann inklusiver ÖPNV die Lebensqualität steigern
Auf der Seite unserer Initiative Kommune Inklusiv finden Sie unter anderem ein Beispiel, wie Inklusion im ÖPNV auch die Lebensqualität steigern kann. In Pfaffenhofen gibt es dafür kostenlose Stadtbusse für alle. Wie das zur Inklusion beiträgt, lesen Sie im Beitrag:
Eine Frau sitzt auf einer Bank an einer Bushaltestelle.

Fit für Fahrgäste mit Behinderung

Seminare, die Busfahrer*innen fit für den Umgang mit Passagieren mit Behinderung machen, gibt es bei verschiedenen Anbietern. Die combus Competence Mensch und Bus GmbH bietet die Fortbildung zweimal jährlich als offenes Seminar an. Interessierte können sich direkt über die Homepage von combus anmelden. Alternativ können Busunternehmen und Verkehrsbetriebe die Schulung auch für ihre gesamte Belegschaft an einem Wunschtermin buchen. Das siebenstündige Seminar können sich Busfahrer*innen auf die 35 Fortbildungsstunden anrechnen lassen, die sie alle fünf Jahre absolvieren müssen, um ihren Führerschein zu erneuern.

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