Das wir gewinnt

Wie barrierefrei ist der Bundestagswahlkampf 2021?

Wie ernst es die Parteien mit Inklusion meinen, zeigt sich nicht nur in ihren Wahlprogrammen, sondern nicht zuletzt auch darin, ob und wie sie versuchen, Menschen mit Behinderung im Wahlkampf zu erreichen. Wie steht es um die Barrierefreiheit in den Kampagnen der großen Parteien?
Im rechten Bildrand ist eine Straße zu sehen. Auf dem Bürgersteig auf der linken Bildhälfte sind viele, bunte Wahlplakate an Laternenpfählen angebracht.
picture alliance / Daniel Kubirski / Daniel Kubirski
Menschen mit Behinderung werden immer noch nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen. Als Menschen, die über ihre Behinderung hinaus existieren, mit einem Beruf, Interessen und Wünschen. Deutlich wird es zum Beispiel in den Medien: So langsam werden immer mehr Filme, Serien und andere Sendungen barrierefrei. Wenn es dann aber in die Werbung geht, scheinen Menschen mit Behinderung nicht mehr der so oft zitierten „werberelevanten Zielgruppe der Menschen zwischen 14 und 49 Jahren“ anzugehören. Sie tauchen weder in der Werbung auf, werden nicht angesprochen, noch gibt es barrierefreie Fassungen. Behinderte Menschen sind anscheinend keine wichtigen Konsument*innen.

Wahlkampf: Keine Ansprache von Menschen mit Behinderung

Das gleiche Gefühl kann man auch bekommen, wenn es um Politik und den Wahlkampf geht. Es reicht eben nicht, die Wahlrechtsausschlüsse aufzuheben, sondern Menschen mit Behinderung – insbesondere die Erstwähler*innen – müssen von der Politik erreicht werden. Barrierefrei und auf Augenhöhe. 
Schaut man sich die Webauftritte der sechs, im Bundestag vertretenen Parteien an, kommen starke Zweifel auf, ob Menschen mit Behinderung mitgedacht wurden, gar angesprochen werden wollen.

Zu wenig digitale Barrierefreiheit bei den meisten Parteien

Barrierefreiheit ist kein neues Thema, genauso wenig wie das Internet „Neuland“ ist – und doch gibt es bei den Parteien gravierende Mängel in Sachen Zugänglichkeit. Die Webseiten sind teilweise sehr überladen mit Artikeln, Videos und anderen Elementen, was eine Navigation mit einem Screenreader für blinde oder sehbehinderte Menschen erschwert. Erstaunlich dabei: Nur die SPD und Die Grünen haben auf ihrer Seite Alternativtexte bei den Bildern hinterlegt. Bei allen anderen Parteien gehen hier wichtige Informationen verloren – auch bei der FDP, die als Bildbeschreibung lediglich Schlagworte zum Thema des Artikels hinterlegt hat. Was auf allen Webseiten der Parteien fehlt, sind integrierte Angebote zur Barrierefreiheit: Es gibt weder Einstellungsmöglichkeiten zur Schriftgröße oder zum Kontrast, noch Optionen, sich Texte vorlesen zu lassen. Auch eine Übersetzung der aktuellen Inhalte in Gebärdensprache oder in Leichte Sprache fehlen bei allen Parteien.

Hintergrundinfos

Welchen Standpunkt vertreten die einzelnen Parteien in teilhabepolitischen Themen?
Finden Sie es heraus in den Interviews mit den behinderten- und teilhabepolitischen Sprechern der Parteien oder der Analyse der Wahlprogramme auf teilhabepolitische Aspekte.

Wahlprogramme in verschiedenen Versionen

Einen besseren Eindruck machen die Wahlprogramme, die Herzstücke, woran sich die Parteien messen lassen wollen und müssen. Während früher noch geflachst wurde, dass sich eh niemand diese unzähligen Seiten durchliest, stellen die Parteien inzwischen gleich mehrere Versionen des eigenen Wahlprogramms online. Das Wahlprogramm in Leichter Sprache gehört – außer bei der AfD – hier zum Standard. Darüber hinaus werden die Programme bei CDU/CSU, SPD, Die Grünen, Die Linke und AfD auch als Audio angeboten. Die FDP hat statt einer Audioversion ihr Programm in Deutscher Gebärdensprache zur Verfügung gestellt. Weitere Fremdsprachen werden ebenfalls bei allen Parteien, außer bei der SPD und der AfD, angeboten.

Barrierefreie Angebote der Parteien auf Social Media

Wenn man jedoch den Blick auf die Social-Media-Kanäle legt – also auf den Bereich, auf den potenzielle Wähler*innen auch mal eher zufällig stoßen, schwindet das barrierefreie Angebot wieder gegen null. Die Grünen sind die einzige der aktuell sechs im Bundestag vertretenen Parteien, die auf ihren Social-Media-Kanälen Twitter, Facebook und Instagram durchgängig Alternativtexte zur Bildbeschreibung hinterlegt haben. Eine erschreckende Tatsache, denn die Funktion der Alternativtexte sollte den Profis aus den Social-Media-Teams der Parteien bekannt sein. Eine Raketenwissenschaft ist es zumindest nicht.

Wahlwerbespot: Kaum Barrierefreiheit in Sicht

Durch die immer weniger werdenden Zuschauer*innen des linearen Fernsehens, sind inzwischen auch die Wahlwerbespots bei Youtube jederzeit abrufbar. Und obwohl die Parteien hier die Möglichkeit haben, Videos in Gebärdensprache oder in Leichter Sprache anzubieten, sucht man vergeblich danach. Auch Audiodeskription ist nicht vorhanden, was die inszenierte Bebilderung für blinde und sehbehinderte Menschen verpuffen lässt. Selbst bei der Untertitelung – und hier ist noch nicht einmal das Aktivieren der Videotext-Tafel 150 nötig – vertrauen Parteien wie die CDU/CSU eher auf die, von Youtube automatisch und teilweise noch fehlerhaft generierten Untertitel. Die Partei Die Linke hat in ihrem Video wiederum eine interessante Lösung gefunden und lässt alle gesagten Worte im Bild erscheinen.

Schaut man aber nicht nur auf die Barrierefreiheit, sondern auch auf das Gefühl, als behinderter Mensch mitgedacht und mitgemeint zu werden, dann sticht das Video von Den Grünen hervor. Vielfältige Menschen unserer Gesellschaft singen gemeinsam das Lied „Kein schöner Land“. Natürlich, und das sollte selbstverständlich sein, tauchen auch Menschen mit Behinderung auf. Es ist der einzige Videoclip, der Repräsentanz von Menschen mit sichtbarer Behinderung zeigt.

Barrierefreiheit nicht zu Ende gedacht

Bei dem Aufeinandertreffen der Kandidat*innen im sogenannten „Triell“ beim Fernsehsender RTL und auch bei den Kandidat*innen-Interviews bei ProSieben waren zumindest Gebärdensprachdolmetscher*innen anwesend. Ein Fakt, der vor einigen Jahren noch fast undenkbar gewesen wäre, und eines der wenigen Dinge, die sich Deutschland vom Wahlkampf aus den USA hat abgucken können. Die Aktivistin Nathalie Dedreux merkte auf ihrem Instagram-Profil jedoch richtig an, dass auch eine Übersetzung in Leichter Sprache notwendig sei, damit sich Menschen mit Lernschwierigkeiten über die bevorstehende Wahl informieren können. Außerdem bemängelte die gehörlose Aktivistin Julia Probst die zu kleine Einblendung der Gebärdensprachdolmetscherin. Forderungen, die in Zeiten von mehreren Tonkanälen pro Sender und weiteren Spartenkanälen nicht an den technischen Voraussetzungen scheitern dürften. Hier wurde einfach eine Gruppe potenzieller Wähler*innen vergessen. 

Wahlplakate als physische Barrieren

Wenn man die digitale Medienlandschaft verlässt und sich vor die Haustür begibt, dann kommt man zwangsläufig nicht um Wahlwerbung herum – im wahrsten Sinne des Wortes! Große Wahlplakate am Straßenrand sind mit ihrer großen Schrift vielleicht für Menschen mit einer Sehbehinderung einfacher zu lesen, stellen aber auch oftmals physische Barrieren dar. Insbesondere Plakate, die an Laternen oder Straßenschildern befestigt sind, bieten ein großes Potenzial für Zusammenstöße.
Die blinde Bloggerin Lydia Zoubek stellt auf ihrem Instagram-Kanal „Lydias Welt“ regelmäßig die alltäglichen Barrieren blinder Menschen vor. Mit einem
Langstock ausgestattet ist es kein Problem, den Pfosten auf dem Weg zu erkennen – das Plakat auf Augenhöhe gerät aber unfreiwillig zum spontanen Hindernis.

Und auch, wenn es im Wahlkampf hin und wieder positive Lichtblicke gab – zum Beispiel, dass die Spitzenkandidatin von Den Grünen, Annalena Baerbock, auf ihren Wahlkampfveranstaltungen immer Gebärdensprachdolmetscher*innen dabei hatte –, so bleibt der fade Beigeschmack, dass Menschen mit Behinderung eben doch bei der Wahl keine Rolle spielen. Die Parteien, Werbeagenturen, Wahlkampf- und Social-Media-Teams müssen endlich verstehen, dass das bloße Aufheben von Wahlrechtsausschlüssen nicht alles gewesen sein kann. Es kann nur der Anfang sein. Nun muss der zwingend notwendige und längst überfällige barrierefreie Zugang zu Informationen folgen. Nur dann können die Forderungen der Parteien nach Inklusion auch ernst genommen werden.

Ein junger Mann mit braunen Haaren und Bart schaut in die Kamera. Er trägt ein schwarz blau gestreiftes T-Shirt.
Jonas Karpa

Über den Autor

Jonas Karpa wurde 1986 in Essen geboren. Studierte in Paderborn und Detmold Medienwissenschaften und Musikwissenschaften. Sammelte in dieser Zeit Erfahrung in verschiedenen Hörfunk- und TV-Redaktionen. Inzwischen lebt er in Berlin und arbeitet für den Sozialhelden e.V. als Redakteur in den Projekten Die Neue Norm und Leidmedien.de sowie als Barrierefreiheitstester für Ramp-Up.me.