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„Hart erkämpfte Rechte  werden in der Corona-Pandemie erneut missachtet“

Viele Menschen mit Behinderung sind in der Corona-Pandemie gesundheitlich besonders gefährdet. Die Richterin Nancy Poser meint: Gerade jetzt werden sie nicht ausreichend geschützt und beteiligt. Stattdessen nehmen Diskriminierung und Rechtsverletzungen zu. Das Gespräch mit Nancy Poser haben wir Anfang 2021 geführt.

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie beklagen viele Aktivist*innen und Betroffene, dass hart erkämpfte Rechte von Menschen mit Behinderung erneut missachtet werden. Sehen Sie das auch so?

Nancy Poser: Ja! Insbesondere Mitbestimmungsrechte von Menschen mit Behinderung werden in der Pandemie vergessen. Es wird nicht mehr mit Menschen mit Behinderung gesprochen. Der Rat der Betroffenen wird nicht mehr eingeholt, sie werden nicht mehr gefragt, was sie brauchen.

Ein Beispiel ist das Beatmungs- und Intensivpflegegesetz: Das wurde mitten in der Pandemie einfach so durchgeboxt. Dieses Gesetz macht es Menschen, die auf Beatmung angewiesen sind, künftig schwerer, in den eigenen vier Wänden zu bleiben. In einer Pandemie, bei der wir es mit einer Atemwegserkrankung zu tun haben, waren Beatmungspatienten natürlich nicht in der Lage, zu Anhörungen zu kommen oder öffentlich zu protestieren.

Ein weiteres Beispiel ist die Triage-Diskussion. Zur Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages war kein einziger Vertreter von Menschen mit Behinderung geladen. Da sprachen mal wieder Ärzte und Vertreter anderer Professionen über die Menschen mit Behinderung, nicht mit ihnen.

Viele Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten leben seit Monaten völlig isoliert. Was bedeutet das für die Betroffenen?

Nancy Poser: Die Situation ist psychisch natürlich belastend. Allerdings erlebe ich, dass viele Menschen sehr viel Geduld aufbringen, um sich selbst zu schützen. Trotzdem bleibt die Angst vor einer Ansteckung. Denn das eigentliche Problem ist ein anderes: Menschen mit Behinderung haben oftmals einen hohen Pflegebedarf und können sich deshalb gar nicht isolieren. Das sehe ich bei mir selbst: Ich habe neun Assistenten, die sich regelmäßig abwechseln. Und die kommen bei der Pflege bis auf wenige Zentimeter an mich heran. Teils ist es in der Dusche auch nicht möglich, Maske zu tragen. So kann man keine AHA-Regeln einhalten.

Wiederholt wurde in den vergangenen Monaten der Vorwurf erhoben: Gesundheitlich gefährdete Menschen, die zuhause mit Persönlicher Assistenz leben, werden auch bei der Diskussion um Schutzmaßnahmen vergessen. 

Nancy Poser: Diese Einschätzung teile ich völlig. Es wurde keine Schutzkleidung für ambulant Pflegebedürftige bereit gestellt. Es gibt auch keine Schnelltests. Bei der Impfung wurden wir auch zunächst vergessen. Einen Pflegebonus gab es für unsere Angestellten nicht. Das ist ein Rundum-Vergessens-Paket.

Eine Pflegerin setzt einem jungen Mann im Rollstuhl eine Spritze in den Arm

Corona-Impfung in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. 

Eine junge Frau mit Pagenkopf-Haarschnitt steht vor einem Bücherregal

Nancy Poser

Die Betreuungsrichterin am Amtsgericht in Trier lebt mit einer angeborenen Muskelerkrankung. Als Mitglied im Forum behinderter Juristinnen und Juristen setzt sich Poser insbesondere für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein.

Aktuell (Stand Anfang 2021) werden lediglich Menschen mit Behinderung geimpft, die in Einrichtungen wohnen. Schwerkranke und behinderte Menschen, die zu Hause statt im Heim unterstützt werden, gehören bisher nicht nur ersten Priorität. Einzelne Betroffene haben bereits erfolgreich geklagt und wurden inzwischen geimpft. Können solche Einzelfallentscheidungen etwas bewirken, um die Impfprioritäten insgesamt gerechter zu gestalten?

Nancy Poser: Die Impf-Verordnung wurde ja inzwischen überarbeitet. Jetzt sind Einzelfallentscheidungen ausdrücklich vorgesehen. Es sind auch ein paar Erkrankungen mehr aufgerückt, die vorher nicht inkludiert waren. Dennoch fragt sich, ob das der richtige Weg ist. Denn Einzelfallentscheidungen sind immer schwierig. Niemand weiß so genau, wer eine Einzelfall-Entscheidung trifft, wie lange das dauert oder wie man sie durchsetzen soll. Es gibt viele Menschen, die haben nicht die Möglichkeiten, sich ausreichend zur Wehr zu setzen. Zum Beispiel, weil sie eine kognitive Beeinträchtigung haben. Einzelfall bedeutet immer: Einige Betroffene fallen hinten rüber. Deshalb würde ich es begrüßen, wenn zumindest alle Pflegebedürftigen, die auf körperliche Nähe von anderen angewiesen sind, prioritär geimpft würden. Zum Beispiel diejenigen mit Pflegegrad 4 und 5. Das wäre auch einfach umsetzbar über eine Abfrage bei der Pflegekasse.

Weder der Zugang zu Corona-Ambulanzen noch Informationen zu staatlichen Maßnahmen und Unterstützungsleistungen sind durchgängig barrierefrei. Das beklagen viele Betroffene. Wie beurteilen Sie das?

Nancy Poser: Es stimmt absolut. Blinde Menschen zum Beispiel haben keinen Zugang zu Formularen zum Thema Impfen. Das gleiche gilt für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Auch alte Menschen haben große Probleme. Der Zugang ist nur für junge Menschen möglich, die im Internet versiert sind und keine Beeinträchtigung haben.

Am Anfang der Pandemie gab es die täglichen Pressekonferenzen. Das war ein langer Kampf, bis da endlich Gebärdensprachdolmetscher eingesetzt wurden. Auch jetzt findet vieles ohne Gebärdensprachdolmetschung statt. Das ist ein Unding und wäre in anderen Ländern unvorstellbar.

Mit Klage zur Impfung

Mittlerweile haben sich mehrere schwerbehinderte Menschen, die zuhause wohnen, oder deren Eltern erfolgreich für eine Impfung eingesetzt. Ein paar Linktipps zum Thema:

  • In einem Radiobeitrag von SWR2 geht es um das Ehepaar Overs und ihren schwerbehinderten erwachsenen Sohn Benni. Die Eltern haben eine Impfung für ihren Sohn erkämpft und wollen nun auch anderen Betroffenen helfen.
Katrin Langensiepen

Menschenrechte in der (Corona-)Krise

Kann ein ethischer Umgang mit sogenannten Risikogruppen in der Coronakrise gelingen? Wer soll über Schutz und Freiheit von gefährdeten Personen entscheiden? Wir haben vier Expert*innen mit und ohne Behinderung um eine Einschätzung gebeten.

Zum Thema Triage haben Sie sich in den vergangenen Monaten besonders engagiert. Wenn es zu Engpässen auf den Intensivstationen kommt, müssten Mediziner entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, kurz DIVI, hat für diese Situation Leitlinien erarbeitet. Gegen dieses Vorgehen haben Sie gemeinsam mit Mitstreiter*innen vor dem Verfassungsgericht geklagt. Was war der Hintergrund dieser Klage?

Nancy Poser: Am Anfang der Pandemie gab es die dramatischen Bilder aus den Krankenhäusern in Italien. Dort wurde triagiert. In Deutschland gab der Ethikrat eine Stellungnahme ab und meinte: Es kann keine gesetzliche Regelung zum Thema Triage geben. Denn der Gesetzgeber darf nicht abwägen, welche Menschen leben dürfen und welche sterben müssen. Das verbietet das Grundgesetz. Deshalb ist es besser, wenn Fachverbände Richtlinien erstellen. Das ist meiner Meinung nach eine völlige Verkennung der Rechtslage: Denn der Gesetzgeber darf beim Abwägen über Menschenleben auch nicht einfach wegschauen. Er ist in der Schutzpflicht für die Betroffenen.

Die DIVI gab kurz darauf die Richtlinien zum Thema Triage heraus. Darin stand zwar, dass nicht aufgrund von Alter und Behinderung diskriminiert wird. Aber gleichzeitig gibt es eine Liste zum Abhaken für die Ärzte: Gibt es Vorerkrankungen? Wie ist der allgemeine Gesundheitszustand? Das wird anhand einer Gebrechlichkeitsskala beurteilt. Menschen mit Behinderungen kommen da schlecht weg. Vorerkrankungen wie meine eigene sind der Grund, weshalb man im Zweifelsfall das Nachsehen hat.

Viele Außenstehende denken vielleicht: Naja, vielleicht haben diese Menschen im Fall von COVID-19 ja wirklich keine so guten Chancen. Doch darum geht es gar nicht: Eine Triage findet zwischen Menschen statt, bei denen vorher festgestellt wurde, dass sie im Fall einer intensivmedizinischen Beatmung eine Erfolgschance haben. Die Erfolgschancen sind vielleicht unterschiedlich groß. Es sind aber zwei oder mehr Leute, von denen die Ärzte grundsätzlich denken: Ja, sie könnten das alle schaffen. Erst danach sortieren sie nach Vorerkrankungen und Gebrechlichkeit.

Wie waren die Reaktionen darauf?

Nancy Poser: Damals war ich überrascht und geschockt von den ersten Reaktionen darauf in den sozialen Medien. Da kam kein Aufschrei der Behindertenbewegung. Die erste Reaktion war: Naja, das war doch klar, dass wir zuerst aussortiert werden. Das finde ich tragisch. Dass Menschen mit Behinderung ihren Selbstwert so gering schätzen. Ich möchte nicht, dass ein Arzt mein Leben gegen das eines anderen Menschen abwägt. Das sollte ein Mensch nicht tun müssen: Zwischen zwei Menschen auswählen müssen, grundsätzlich beide eine Überlebenschance haben.

Deshalb habe ich gemeinsam mit anderen eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Wir sehen den Staat in der Schutzpflicht. Der Gesetzgeber sollte die Triage diskriminierungsfrei gesetzlich regeln.

Wir hatten mit unserer Verfassungsbeschwerde einen Eilantrag verbunden. Den hat das Bundesverfassungsgesetz im Sommer abgelehnt, weil das Infektionsgeschehen abgeflacht war. Grundsätzlich sind wir aber sehr zufrieden. Denn das Verfassungsgericht stellte fest: Unsere Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich unzulässig und auch nicht offensichtlich unbegründet. Deshalb muss genau geprüft werden, da es sich um ein wichtiges Thema handelt.

Das Verfassungsgericht hat Stellungnahmen eingefordert von sämtlichen Landesregierungen, vom Bundestag, vom Bundesrat, von der Bundesregierung und von verschiedenen Betroffenenorganisationen. Die Stellungsnahmen liegen jetzt vor. Nun hoffen wir, dass das Bundesverfassungsgericht schnell zu einer positiven Entscheidung kommt.

Was versteht man unter Triage?

Wenn Ärzt*innen entscheiden müssen, wem sie aus Kapazitätsgründen helfen und wem nicht, spricht man von Triage. Das Wort bedeutet "Auswahl" und stammt aus dem Französischen. Während der Corona-Pandemie ist das Thema aktuell geworden, da Intensivstationen teilweise an der Belastungsgrenze waren. Nancy Poser setzt sich für gesetzlich geregelte, diskriminierungsfreie Triage-Verfahren ein.

Wie waren die Reaktionen darauf?

Nancy Poser: Damals war ich überrascht und geschockt von den ersten Reaktionen darauf in den sozialen Medien. Da kam kein Aufschrei der Behindertenbewegung. Die erste Reaktion war: Naja, das war doch klar, dass wir zuerst aussortiert werden. Das finde ich tragisch. Dass Menschen mit Behinderung ihren Selbstwert so gering schätzen. Ich möchte nicht, dass ein Arzt mein Leben gegen das eines anderen Menschen abwägt. Das sollte ein Mensch nicht tun müssen: Zwischen zwei Menschen auswählen müssen, grundsätzlich beide eine Überlebenschance haben.

Deshalb habe ich gemeinsam mit anderen eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Wir sehen den Staat in der Schutzpflicht. Der Gesetzgeber sollte die Triage diskriminierungsfrei gesetzlich regeln.

Wir hatten mit unserer Verfassungsbeschwerde einen Eilantrag verbunden. Den hat das Bundesverfassungsgesetz im Sommer abgelehnt, weil das Infektionsgeschehen abgeflacht war. Grundsätzlich sind wir aber sehr zufrieden. Denn das Verfassungsgericht stellte fest: Unsere Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich unzulässig und auch nicht offensichtlich unbegründet. Deshalb muss genau geprüft werden, da es sich um ein wichtiges Thema handelt.

Das Verfassungsgericht hat Stellungnahmen eingefordert von sämtlichen Landesregierungen, vom Bundestag, vom Bundesrat, von der Bundesregierung und von verschiedenen Betroffenenorganisationen. Die Stellungsnahmen liegen jetzt vor. Nun hoffen wir, dass das Bundesverfassungsgericht schnell zu einer positiven Entscheidung kommt.

Bild von Christian Homburg zu seiner Petition für prioritäre Impfung für Risikogruppen in ambulanter Versorgung

Petition

Christian Homburg hat 2020 eine Petition gestartet, um einen schnelleren Covid-19-Impfschutz für schwerbehinderte Menschen außerhalb von Pflegeheimen zu erreichen. Die Aktion war ein voller Erfolg: 103.085 Menschen haben die Petition unterzeichnet und dazu beigetragen, dass selbstbestimmt lebende Menschen mit Behinderung Zugang zur Impfung bekommen haben.

Wie könnte der Gesetzgeber eine Triage-Situation denn regeln?

Nancy Poser: Es muss eine Entscheidung sein, die Chancengleichheit für jeden Patienten bietet, der eine Überlebenschance hat. Das ist meiner Meinung nach entweder das Zufallsprinzip. Ein Computer könnte die Reihenfolge von Patienten festlegen. Oder derjenige Patient wird beatmet, der zuerst da war. Wenn ich Beatmung brauche und es ist kein Gerät frei, dann muss ich sterben, weil kein Gerät frei ist. Nicht, weil ich eine Behinderung habe. Das ist etwas ganz anderes.

An vielen Stellen werden also Rechte von Menschen mit Behinderung zurzeit missachtet. Was können Betroffene tun, um sich dagegen zu wehren?

Nancy Poser: Das, was wir bereits tun: Wir versuchen, Öffentlichkeit für das Thema das zu schaffen. Wir versuchen aufzuklären und über Missstände zu berichten. Es gibt auch einige Petitionen, darunter eine zum Thema Impfen. Aber viel mehr ist im Moment nicht möglich. Wir können derzeit keine großen Demonstrationen oder ähnliches veranstalten, sondern sind sehr auf die digitalen Medien beschränkt. Und wir kämpfen mit dem Problem, das wir immer haben: Wir nicht die größte Gruppe an Menschen und haben keine Lobby. Wir werden oft nicht gehört.

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