Das wir gewinnt

„Barrierefreiheit ist kein Gefallen“

Die Architektin Sylvia Pille-Steppat erklärt im Interview, warum das „Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg“ wichtig ist und wie es Planer*innen und Bauverantwortliche unterstützt.

Frau Pille-Steppat, Sie arbeiten als Architektin beim „Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg“. Welche Aufgaben hat die Einrichtung?

Unser Kompetenzzentrum gibt es seit 2019. Es ist eine städtisch finanzierte Einrichtung, die unterschiedliche Akteure in Fragen der baulichen und digitalen Barrierefreiheit berät. Das sind Behörden, Unternehmen und Vereine, aber auch öffentliche Bauherren, Projektentwickler, Investoren und Architekten. Sie können uns ansprechen, aber wir weisen auch aktiv auf Missstände hin und machen Verbesserungsvorschläge. Dabei haben wir immer alle Gruppen im Blick – zum Beispiel auch hörbehinderte Menschen, deren Anforderungen an Barrierefreiheit bei der Planung noch sehr oft vergessen werden. Ziel ist es, ein Bewusstsein für Barrierefreiheit zu schaffen und dazu beizutragen, die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung in Hamburg zu verbessern – eben auch dadurch, dass niemand durch Bauwerke behindert wird.

Warum ist ein Kompetenzzentrum für Barrierefreiheit notwendig? Fehlt es noch an Bewusstsein für das Thema?

Die Notwendigkeit von barrierefreiem Bauen stellt heute eigentlich niemand mehr infrage. Aber bei der Umsetzung gibt es noch viele Schwierigkeiten. Von einer gebauten Umwelt, in der alle problemlos zurechtkommen, sind wir immer noch weit entfernt.

Die Notwendigkeit von barrierefreiem Bauen stellt heute fast niemand mehr in Frage, aber bei der Umsetzung gibt es noch Schwierigkeiten.

Sylvia Pille-Steppat

Was hemmt die Umsetzung von Barrierefreiheit konkret? Reichen die gesetzlichen Vorgaben nicht aus?

Die Gesetzgebung bietet tatsächlich noch zu viele Schlupflöcher. In der Landesbauverordnung von Hamburg steht zum Beispiel, dass man von Vorgaben der Barrierefreiheit abweichen darf, wenn sie sich nicht wirtschaftlich realisieren lässt. Mit dem Kostenargument kann man sich ziemlich einfach um Barrierefreiheit drücken. Das ist schade, denn wenn man Barrierefreiheit bei einem Neubau von Anfang an mit einplant, lässt sich fast immer eine kostengünstige oder sogar kostenneutrale Lösung finden. Außerdem kann man hohen Umbaukosten in der Zukunft vorbeugen: Wenn die Wand heute schon so angelegt wird, dass sie in 20, 30 Jahren einen Haltegriff trägt, oder die Kabelkanäle für den elektrischen Türöffner jetzt schon gelegt werden, spart das später viel Aufwand und Kosten.

Ein weiterer Knackpunkt ist das Baugenehmigungsverfahren. Nur hier wird geprüft, ob ein Bauwerk die Vorgaben der Barrierefreiheit erfüllt. In den Plänen, die für die Genehmigung eingereicht werden, sind viele entscheidende Details aber noch gar nicht enthalten – zum Beispiel Angaben über Leitsysteme oder die endgültige Breite der Türen. Es gibt aber auch Umsetzungshindernisse, die nichts mit gesetzlichen Vorgaben zu tun haben.

Können Sie dafür ein paar Beispiele nennen?

Häufig wird der Bedarf unterschätzt. Die Zentralbibliothek in Hamburg etwa hat vor einiger Zeit sogenannte Lesepodeste in ihre Räume integriert. Wir hatten davon abgeraten, weil sie nicht für alle zugänglich sind. Die Planenden schätzen es aufgrund einer vorhandenen mobilen Rampe und der vermeintlich geringen Zahl von Besucher*innen mit Behinderung dennoch als gute Lösung ein. Das war ein Irrtum, es gab viele Beschwerden. Immerhin hat das dazu geführt, dass die Bibliothek für Barrierefreiheit nun sehr sensibilisiert ist und eng mit uns zusammenarbeitet. Nachträglich wurde ein fester Hublift am Podest eingebaut, ein Leitsystem für blinde Besucher*innen ist in Arbeit. Berührungsängste mit dem Thema Barrierefreiheit sind ebenfalls ein wichtiges Thema. Viele Bauverantwortliche haben Angst, dass eine barrierefreie Ausstattung einen Riesenaufwand und erhebliche Zusatzkosten verursacht. Das muss aber keineswegs so sein. Nicht zuletzt gibt es gestalterische Vorbehalte: Manche Architektinnen und Architekten fürchten, dass barrierefreie Lösungen die Schönheit ihres Entwurfs beeinträchtigen.

Eine Frau im Rollstuhl sitzt an einem Schreibtisch, hält ein Lineal und einen Bleistift in der Hand. Sie zeichnet auf Plänen.

Sylvia Pille-Steppat

Sylvia Pille-Steppat arbeitet seit 2019 beim „Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg“. Zuvor war sie als freie und als angestellte Architektin sowie als Dozentin in der Erwachsenenbildung tätig. Sie ist Mitglied des Arbeitskreises Barrierefrei Bauen und Planen der Architektenkammer Hamburg. Auch als Para-Ruderin ist Sylvia Pille-Steppat erfolgreich. Bei den Paralympics 2021 in Tokio erreichte sie Platz 5 im Einer. Sie setzt sich für Barrierefreiheit im Sport und barrierefreie Sportstätten ein.

Manche Architektinnen und Architekten fürchten, dass barrierefreie Lösungen die Schönheit ihres Entwurfs beeinträchtigen. (...) Gerade deshalb ist es so wichtig, Barrierefreiheit von Anfang an mitzudenken. Dann lassen sich Lösungen finden, die sowohl ästhetisch als auch funktional gut sind.

Sylvia Pille-Steppat

Finden Sie die gestalterischen Bedenken nachvollziehbar?

Eine nachträglich angebaute Rollstuhlrampe oder ein Lift, der in der ursprünglichen Planung nicht vorgesehen war, machen ein Gebäude meist nicht schöner. Das sehe ich auch so. Gerade deshalb ist es so wichtig, Barrierefreiheit von Anfang an mitzudenken. Dann lassen sich Lösungen finden, die sowohl ästhetisch als auch funktional gut sind.

Mein Eindruck ist, dass sich manche Kolleginnen und Kollegen zu eng an die sogenannten konkretisierenden Ausführungen halten, die in der Norm genannt werden. Diese Ausführungen sind aber keine zwingenden Vorgaben. Sie zeigen nur beispielhaft, wie man das Schutzziel der Norm erreichen kann. Es ist immer zulässig, mit anderen Lösungen zu diesem Ziel zu kommen. Das ist vielleicht noch nicht allen bewusst. Die Norm schränkt die Gestaltungsfreiheit also nicht ein, sondern fordert besonders kreative Lösungen geradezu heraus – eigentlich perfekt für Architekt*innen. Klar ist natürlich auch, dass das in der Praxis oft nicht einfach ist. Aber es geht, und bei Bedarf kann man sich Unterstützung beim Kompetenzzentrum holen.

Wie unterstützt das Kompetenzzentrum Planerinnen und Planer denn genau?

Wir beraten auf der Basis von Plänen, machen aber auch sehr viele Ortsbegehungen, bei denen wir auf Probleme hinweisen und Lösungen vorschlagen. Häufig sind wir als Vermittler im Boot. Typischer Fall: Eine Wohnungsbaugesellschaft möchte im Rahmen einer barrierereduzierten Ausstattung möglichst wenig machen, die Bewohner*innen wollen möglichst viel, die Planenden stehen zwischen den Fronten. Dann ist es wichtig, alle an einen Tisch zu bringen und das Problem mit Toleranz und Kompromissbereitschaft anzugehen. Auf diese Weise lassen sich eigentlich immer Lösungen finden, mit denen alle zufrieden sind.

Wir haben viel darüber gesprochen, wo es bei der Barrierefreiheit noch hakt. Sehen Sie auch positive Entwicklungen?

Auf jeden Fall! Das Bewusstsein für die Bedeutung einer barrierefrei gebauten Umwelt ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen, die gesetzliche Lage hat sich verbessert und bei der Umsetzung geht es voran. Allein, dass es unser Zentrum gibt, zeigt ja schon, wie ernst das Thema Barrierefreiheit inzwischen genommen wird. Das liegt auch daran, dass Menschen mit Behinderung heute viel selbstbewusster auftreten als früher, sich auch mal beschweren und Forderungen stellen. Barrierefreiheit ist eben kein Gefallen, sondern ein Recht.

Die Norm schränkt die Gestaltungsfreiheit nicht ein, sondern fordert besonders kreative Lösungen geradezu heraus – eigentlich perfekt für Architekt*innen.

Sylvia Pille-Steppat

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