Das wir gewinnt

„Es geht nicht darum, streng nach Normen zu arbeiten“

Die Architektin Ursula Fuss weiß, wie wichtig barrierefreie Architektur ist. Sie sitzt selbst seit 1993 im Rollstuhl. An verschiedenen Hochschulen bringt sie deshalb Architekturstudent*innen barrierefreies Bauen nahe. Im Interview erzählt sie, worauf es dabei ankommt.

Frau Fuss, warum ist eine barrierefreie Architektur so wichtig?

Die Architektur ist das Grundelement für eine barrierefreie Gesellschaft. Über eine barrierefreie Architektur können wir eine gerechte Umwelt erschaffen, in der wir alle teilhaben und uns auf Augenhöhe begegnen können. Denn Menschen mit Behinderung leben genauso wie jede*r andere ein normales, selbstbestimmtes Leben, das eben ein paar andere Grundlagen hat. Und genau die kann die Architektur schaffen.

Wird dieses wichtige Thema angehenden Architekt*innen an den Hochschulen ausreichend vermittelt?

Das ist von Hochschule zu Hochschule unterschiedlich und hängt von den einzelnen Lehrstühlen und Professor*innen ab. Es wird aber immer mehr in die Ausbildung integriert. Trotzdem hat barrierefreie Architektur immer noch bei vielen einen negativen Beigeschmack. Das Thema wird als Zwang wahrgenommen, als etwas, das man tun muss. Viele Lehrende und junge Architekt*innen hangeln sich an den strengen Vorgaben und Richtlinien entlang, die in der Landesbauordnung stehen. Das muss sich ändern.

Wie meinen Sie das genau?

Bei barrierefreier Architektur geht es nicht darum, stringent nach Normen und Vorgaben zu arbeiten. Wenn wir das tun, hören wir auf, kreativ zu denken. Es geht darum, eine funktionale Analyse anzustellen, verständliche, ganzheitliche Konzepte zu entwickeln. Deswegen ist es wichtig, an den Hochschulen experimentell mit dem Thema umzugehen.

Wie setzen Sie das bei Ihren Seminaren um?

Zunächst gebe ich den Studierenden einen fachlichen Rahmen an die Hand und erkläre ihnen, wie sie Barrierefreiheit auf kreative Art und Weise in ihren Entwürfen unterbringen können. Danach versuche ich vor allem, dem Thema die Ernsthaftigkeit zu nehmen. Manchmal bringe ich zum Beispiel Rollstühle mit. So können die Student*innen selbst erleben, wie es ist, im Rollstuhl durch ein Gebäude zu fahren, und auch, wie es sich als Begleitperson anfühlt. Sie nehmen eine andere Perspektive ein und können kreativ sein, ohne von Regularien abgewürgt zu werden. Genau das muss mehr unterstützt werden.

Können Sie Literatur empfehlen, die diesen Ansatz verfolgt?

Der Leitfaden des Bundesbauministeriums geht innovativ mit dem Thema um. Leider gibt es darüber hinaus noch viel zu wenig gute, kreative Literatur in diesem Bereich.

Sie selbst sitzen seit 1993 im Rollstuhl. Welche Vorteile bringt das für Ihren Beruf als Architektin mit sich?

Ich bin mit einer barrierefreien Lebensweise vertraut. Deshalb kann ich sehr genau einschätzen, was wirklich notwendig ist. Wenn ich genau weiß, welchen Hindernissen ich als Rollstuhlfahrer*in jeden Tag begegne oder wie ich mich als blinde Person durch einen Raum bewege, kann ich die Regularien viel kreativer aufbrechen und neu denken. Nur so kann ich clevere Alternativen entwickeln. Außerdem komme ich auf Ideen, die Menschen ohne Behinderung gar nicht so schnell einfallen würden, zum Beispiel eine barrierefreie Gewahrsamszelle zu bauen.

Was muss an den Hochschulen passieren, damit barrierefreie Architektur in Zukunft als Chance wahrgenommen wird?

Was fehlt, ist ein eigener Lehrstuhl für Barrierefreiheit in der Architektur. Dann könnte eine viel umfangreichere Diskussion entstehen. Das scheitert derzeit aber noch an den Kosten. Nichtsdestotrotz ist die Aufklärung das Wichtigste – zu zeigen, was Barrierefreiheit alles kann und welches Potenzial dahintersteckt, nicht immer alles zu engmaschig zu sehen und das Experiment kreativ anzunehmen. Studierende könnten zum Beispiel direkt mit Menschen mit Behinderung in Kontakt treten, sich zeigen lassen, wie sie wohnen, auf was es ankommt und diese Dinge dann wissenschaftlich untersuchen. Sie müssen Neugierde entwickeln. Denn Barrierefreiheit ist etwas Spannendes und wird die Architektur in Zukunft nachhaltig verändern.

Im Video erzählt Ursula Fuss aus ihrem Job als Architektin für barrierefreie Bauten

Schwarz-weiß Bild einer Frau im Rollstuhl auf einer Baustelle. Sie hält einen Gebäudeplan und einen Stift in der Hand.

Ursula Fuss

Ursula Fuss wurde 1959 in Frankfurt am Main geboren und schloss 1988 ihr Architekturstudium an der Städelschule ab. Seit 1993 ist sie aufgrund eines Unfalls querschnittsgelähmt. 1996 gründete sie ihr eigenes Architekturbüro in Frankfurt am Main. Neben ihrer Arbeit als Architektin unterrichtet sie an verschiedenen Hochschulen im Bereich barrierefreies Bauen. 

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