Das wir gewinnt

Was sich in der Wohnungspolitik ändern müsste

Was muss die neue Regierungskoalition tun, um Inklusion auf dem Wohnungsmarkt voranzubringen?
Ein Kommentar von Judyta Smykowski.

Die Ampel-Regierung hat sich beim Thema Inklusion hohe Ziele gesetzt, an denen sie sich messen lassen muss. Schon zu Beginn des Abschnitts „Inklusion“ im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir wollen, dass Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens, vor allem aber bei der Mobilität (u. a. bei der Deutschen Bahn), beim Wohnen, in der Gesundheit und im digitalen Bereich, barrierefrei wird.“ 

Dass das Thema Wohnen hier explizit genannt wird, ist bemerkenswert. Im Kapitel, das sich dann dem Wohnungsbau allgemein widmet, steht die Zahl von 400.000 Wohnungen, die jedes Jahr in ganz Deutschland neu gebaut werden sollen. Damit liegt das Vorhaben im Rahmen dessen, was geleistet werden muss, um den Mangel auszugleichen. Die Angabe, wie viele davon barrierefrei sein sollen, fehlt an dieser Stelle. Das ist angesichts des demografischen Wandels nicht besonders vorausschauend, um nicht zu sagen: ignorant.

Nicht alles, was als barrierefrei bezeichnet wird, ist es auch

Aber was heißt überhaupt barrierefrei? Der Begriff wird auf dem Wohnungsmarkt leider viel zu unhinterfragt benutzt. Ist damit ein stufenloser (mindestens) oder schwellenloser (Luxusgut) Zugang gemeint? Mit Treppenlift? Auch ein barrierefreies Klingel- und Feuermeldesystem für blinde und taube Menschen? Haben mobilitätseingeschränkte Menschen eigentlich nur die Option, in Neubauten zu ziehen, da Altbauten per se nicht zugänglich sind? Und was ist, wenn sie sich diese nicht leisten können?

Die scheinbar nachgerüstete Barrierefreiheit in Altbauten hält einer halbwegs kritischen Prüfung nicht stand. Es werden Fahrstühle eingebaut bzw. drangebaut, und dann wird mit dem Versprechen geworben, dass die Wohnung „bequem“ per Fahrstuhl zu erreichen sei. Dass diese Fahrstühle fast nur auf Zwischenebenen halten, wird dabei im Inserat oft nicht erwähnt. Für mobilitätseingeschränkte Menschen, die einen Fahrstuhl unbedingt benötigen, sind solche Lösungen keine Option. Ja, auch die „eine kleine Stufe vor dem Hauseingang“, wie es manchmal herunterspielend bei der Besichtigung heißt, ist für sie schon zu viel. Transparenz bzw. ein wenig mehr Genauigkeit wäre gegenüber den potenziellen Interessent*innen angebracht und eine große Zeitersparnis, da so die Nachforschungen per E-Mail oder Telefon wegfallen würden. 

Demoschild mit der Aufschrift "Aufzug statt Auszug" ragt über die Köpfe von Demonstrierenden

An Nutznießenden von Barrierefreiheit mangelt es nicht

Barrierefreies Bauen ist eine Investition in die Zukunft. Es ist mit Blick auf unsere alternde Gesellschaft eine Generationen-, aber auch eine Gerechtigkeitsfrage. Wo, wenn nicht in den eigenen vier Wänden, muss es absolute Barrierefreiheit für die Menschen geben, die sie so dringend benötigen? Behinderte Menschen stoßen in der Freizeit, auf dem Weg zur Arbeit, am Arbeitsplatz – also quasi überall – auf Barrieren, da die Privatwirtschaft noch nicht zu Barrierefreiheit verpflichtet ist. Auch das möchte die neue Regierung übrigens endlich ändern. Da könnte die Immobilienwirtschaft mit gutem Beispiel vorangehen.
Ein Fahrstuhl hilft noch dazu nicht nur mobilitätseingeschränkten Menschen, auch Eltern mit Kinderwagen, Kleinkinder oder auch Menschen, die den Lift einfach mal aus Bequemlichkeit nutzen möchten, weil sie schwer zu tragen haben, profitieren davon. An Profiteuren von Barrierefreiheit mangelt es also nicht. 
Artikel 19 der UN-BRK sagt, dass „Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“.
Demnach wäre es die Pflicht der neuen Koalition, das sogenannte Zwangspooling, also die Zusammenlegung von Leistungen für mehrere behinderte Menschen, was auch die Wahl des Wohnorts betrifft, abzuschaffen.

Ein Rollstuhlfahrer und eine Frau mit Kinderwagen stehen vor einer Treppe

Empfehlungen des Instituts für Menschenrechte

Die deutsche Monitoringstelle der UN-BRK am Institut für Menschenrechte hat im Zuge der Koalitionsverhandlungen einige Empfehlungen herausgegeben, was in der aktuellen 20. Wahlperiode passieren muss, damit die UN-BRK auch beim Wohnen umgesetzt wird.

Das Institut bemängelt den „gravierenden Mangel an barrierefreiem Wohnraum“, der sich in Zukunft aufgrund des wachsenden Bedarfs noch deutlich verschärfen werde. Des Weiteren sieht das Institut ein Problem darin, dass für besonders einkommensschwache behinderte Menschen kaum passender Wohnraum verfügbar ist.

Der § 9 Wohnraumförderungsgesetz sieht vor, dass ein Zweipersonenhaushalt im Jahr nicht mehr als 18.000 Euro Bruttoeinkommen haben darf, um Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein und somit vergünstigten Wohnraum zu haben. Damit ist Geringverdiener*innen geholfen. Allerdings nicht denjenigen, deren Einkommen über dieser Grenze liegt und die sich trotzdem keine passende Wohnung auf dem freien Markt leisten können. Es gibt auch kein gesetzliches Vorrecht, dass eine barrierefreie Wohnung bevorzugt an Menschen vermietet oder verkauft wird, die sie zum Beispiel aufgrund einer Behinderung dringend benötigen.

Außerdem kritisiert das Institut für Menschenrechte, dass vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten meist in Wohneinrichtungen leben, wenn sie das Elternhaus verlassen. Diese Formen seien geprägt von institutionalisierten Versorgungsstrukturen, „etwa durch Vorgaben bezüglich der Tagesstruktur, Mahlzeiten und Freizeitgestaltung“.

Es herrschten dort häufig asymmetrische Machtverhältnisse, die das Recht auf Selbstbestimmung der Bewohner*innen schwächen und zu unterschiedlichen Formen von Gewalt führen könnten. „Eine Auflösung der institutionellen Wohnformen dient demnach unmittelbar auch dem Schutz vor Gewalt und Missbrauch.“ Selten wird in Deutschland das Wohlfahrtssystem so deutlich und scharf kritisiert. Die Lösungsvorschläge des Instituts enthalten zum Beispiel die Verwirklichung des Wunsch- und Wahlrechts hinsichtlich der eigenen Wohnform und die Auflage eines bundesweiten Förderprogramms für barrierefreien Wohnraum. 
Ein Demonstrant auf der Straße hält ein Schild mit der Vorderung nach mehr behindertengerechten Wohnungen

Muss es wieder die Zivilgesellschaft in die Hand nehmen?

Demgegenüber steht im Koalitionsvertrag, dass man ein „Bündnis für bezahlbaren Wohnraum“ schaffen wolle. Dabei werden zwei wichtige Informationen nicht mitgeliefert: Wer ist in diesem Bündnis? Und ist mit bezahlbarem Wohnraum auch barrierefreier Wohnraum mitgemeint? 
Das barrierefreie Wohnen wird dann doch in einem Satz im Abschnitt „Bauen und Wohnen“ erwähnt: „Wir werden unseren Einsatz für altersgerechtes Wohnen und Barriereabbau verstärken und die Mittel für das KfW-Programm auskömmlich aufstocken.“ Genauer wird es an dieser Stelle allerdings nicht. 
Es ist mal wieder die Zivilgesellschaft gefragt, mit selbst initiierten Projekten für mehr inklusives Wohnen zu sorgen. Eines dieser Projekte ist WOHN:SINN . Hier finden sich junge Menschen, wie zum Beispiel Studierende mit behinderten Menschen zusammen, die Assistenz benötigen. Die nicht behinderten Personen übernehmen einige Assistenzdienste und leben dafür vergünstigt in den Wohnungen. 
Was bleibt, ist das schale Gefühl, dass Politiker*innen die Lebenswirklichkeit von behinderten Menschen nicht gut genug kennen, um lebensnahe und wirkliche Hilfen in Form von Gesetzesvorschlägen zu unterbreiten.

Eine bunte Legorampe liegt vor einer Stufe. Im Anschnitt ist ein Rollstuhl- oder Kinderwagen-Reifen zu sehen, der gerade über die Rampe rollt.

Das könnte Sie auch interessieren