Das wir gewinnt

„Inklusion muss zur Selbstverständlichkeit werden“

Jens Beeck, teilhabepolitischer Sprecher der FPD, erklärt, wie sich seine Partei in der kommenden Legislaturperiode für mehr Inklusion und Teilhabe einsetzen möchte. Dabei setzt er auf weniger Bürokratie für Betroffene und mehr Barrierefreiheit.
Ein Mann mit lockigen grau-braunen Haaren steht im Anzug vor einem alten Gebäude und schaut in die Kamera.
Jens Beeck, teilhabepolitischer Sprecher der FDP

Über

Jens Beeck ist seit 2001 selbständiger Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei in seiner Heimatstadt Lingen (Ems). Dort ist er auch seit fast 30 Jahren im Stadtrat aktiv. Über den Platz 2 der Landesliste der FDP Niedersachsen wurde Beeck 2017 in den Deutschen Bundestag gewählt, wo er unter anderem als ordentliches Mitglied im Ausschuss Arbeit und Soziales tätig ist. Als teilhabepolitischer Sprecher seiner Fraktion setzt er sich für die Belange und Rechte von Menschen mit Behinderung ein.

Meine Vision einer inklusiven Politik ist, dass wir diesen Begriff nicht mehr brauchen und nicht mehr darüber streiten müssen, sondern ihn als Selbstverständlichkeit ansehen. Und dafür spricht vieles, denn wir haben, über die UN-Behindertenrechtskonvention hinaus, in Deutschland seit 26 Jahren die Inklusion im Grundgesetz erfasst. Im Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 steht, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf – das ist Verfassungsrecht. Deshalb darf sich einem deutschen Parlamentarier die Frage „Mache ich mehr oder weniger Politik für Barrierefreiheit und Inklusion?“ gar nicht stellen. Die Verfassung verpflichtet uns dazu, und glücklicherweise haben wir das Bundesverfassungsgericht, das die Kollegen daran erinnert, die das nicht so direkt auf dem Schirm haben.
Der wohl größte Erfolg ist die Aufhebung der Wahlausschlüsse für Menschen unter Vollbetreuung. Da hat das Bundesverfassungsgericht glücklicherweise aufgrund unserer Klage festgestellt, dass der Ausschluss nicht mit unserer Verfassung übereinstimmt. 
Ansonsten hoffe ich, dass die FDP in der Opposition dazu beitragen konnte, dass deutlich wird, wie wenig in den letzten vier Jahren in diesem Land passiert ist. Zum Beispiel beim Bundesteilhabegesetz. Die Regierung nennt es ein „atmendes Gesetz“, an dem man noch arbeiten muss – wir stellen aber heute schon fest, dass vieles im Grunde sogar schlechter geworden ist. Ein großes Problem liegt hier in der Umsetzung der Maßnahmen, angepasst an die Lebenswirklichkeit der Betroffenen.

Die FDP hat sich in der vergangenen Legislaturperiode besonders um den Bereich Teilhabe gekümmert. Ein Schwerpunkt lag dort auf den Hilfsmitteln zur Teilhabe. Mein besonderes Herzensthema sind Assistenztiere, insbesondere Assistenzhunde. Sie können, glaube ich, wie fast nichts anderes, wieder sehr viel selbstständige Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Doch es ärgert mich, dass im Teilhabestärkungsgesetz die Finanzierung bis heute nicht geklärt ist. Es wird nur einseitig geschaut, was das Assistenztier kostet, und nicht ermittelt, wie viele Kosten im Sozialstaat gespart werden durch dieses Tier.
Auch für die Barrierefreiheit gibt es noch viel zu tun. Wenn ein bundeseigenes Unternehmen wie die Deutsche Bahn noch heute für den Fernverkehr Züge bestellt, die nicht barrierefrei sind, die in fünf Jahren ausgeliefert und dann dreißig Jahre in Betrieb sein werden, dann ist das zutiefst unbefriedigend.

Auch die bauliche Umwelt ist bis heute nicht ausreichend bedacht. Bei der Gestaltung von Straßen, Bahnhöfen oder Busstationen, die einen praktischen Zweck verfolgen, nämlich möglichst jedem die Möglichkeit zu geben, Mobilität dort zu erreichen, sind wir noch lange nicht am Ziel. Dabei ist das für alle Menschen wichtig. Ob für Menschen mit Behinderung, Ältere, Menschen mit Kinderwagen oder für jeden 20-jährigen, der einen Sportunfall hatte. Es geht also nicht nur um eine kleine Gruppe, sondern Barrierefreiheit macht für alle Menschen Sinn.

Ein inklusiver Arbeitsmarkt ist ein Ziel der FDP. Die Frage ist, mit welchen Instrumenten es erreicht werden kann. Unserer Vorstellung nach braucht es mehr Unterstützung für Arbeitgeber, insbesondere dabei, die sehr komplexen Regelungen zu durchschauen. Außerdem sollte die Bürokratie vereinfacht werden. 
Ein Beispiel: Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben sich schon getroffen und möchten auf dem ersten Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz einrichten und stellen die entsprechenden Anträge auf staatliche Unterstützung. Da vergehen oft mehr als vier Wochen, häufig Monate, und so lange können weder Arbeitnehmer noch Arbeitgeber warten. An dieser Stelle kommen gute Ansätze wie das Budget für Arbeit an ihre Grenzen, denn sie kommen in der Lebenswirklichkeit nicht an. Nicht die Idee ist also schlecht, sondern die Ausgestaltung zu kompliziert. Deswegen haben wir zum Beispiel gefordert, dass wenn eine Behörde es in vier Wochen nicht schafft, eine Anfrage zu beantworten, dies als Genehmigung gilt.

Auf dem Weg zu einem inklusiven Arbeitsmarkt haben wir durch die Coronapandemie gelernt, dass Arbeitsplätze durch digitale Formate anders gestaltet werden können, beispielsweise im Homeoffice. Auch in meinem eigenen Büro wird es in dieser Hinsicht Veränderungen geben. Für viele Menschen mit Beeinträchtigung ist es beispielsweise ein Problem, den Arbeitsplatz zu erreichen. Auf einem Arbeitsweg in Berlin können die 45 Minuten im öffentlichen Personennahverkehr aus verschiedenen Gründen herausfordernd sein. Mit digitalen Formaten und Homeoffice können wir große Chancen gebenund viel Druck nehmen. Das ist langfristig nicht exklusiv für Menschen mit Behinderung zu sehen, sondern ein Anspruch auf eine Work-Life-Balance, der uns heute überall begegnet.

Ganz zentral sind für mich Inklusionsunternehmen, weil sie eine hervorragende Brücke zwischen dem, sogenannten, ersten Arbeitsmarkt und Unterstützungsangeboten bilden. Ich persönlich glaube aber, dass die vielfältigen Aufgaben, die die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen haben, weiterhin nicht zu ersetzen sind.

Inklusion bedeutet für mich, jedem die Chance auf volle Teilhabe zu geben. Und dazu ist jedes Unterstützungsinstrument erst einmal willkommen. Die Funktion, die diese Institutionen wahrnehmen, über den vom Berufsbildungsbereich über das Training bis zur gewünschten Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt, die muss irgendjemand übernehmen.

Natürlich sollte niemandem etwas aufgezwungen werden, was er nicht möchte. Für viele Menschen ist die Werkstatt jedoch weiterhin eine gute Möglichkeit. Gerade, wenn man bedenkt, dass die meisten Behinderungen im Laufe des Lebens erworben werden. Jemand, der dem Druck des ersten Arbeitsmarktes nicht mehr standhalten kann und Unterstützung braucht, ist hier gut aufgehoben. Warum soll die Werkstatt an dieser Stelle nicht einen behüteten Raum schaffen für eine Übergangszeit? Damit wären wir wieder bei der Brücke, die die Werkstatt zum Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt bilden soll. 
Darüber hinaus bin ich viel im Gespräch mit Beschäftigten vor Ort. Es gibt viele, die auch in Außenarbeitsgruppen tätig sind und wissen, dass sie von diesem Arbeitgeber auf dem ersten Arbeitsmarkt übernommen werden könnten. Doch sie möchten lieber in Begleitung der Werkstatt weiterarbeiten, weil sie sich damit wohlfühlen. Es muss ein Wunsch- und Wahlrecht geben, wie für jeden anderen auch. Und wenn niemand mehr in die Werkstatt will, dann wird sich das auch erledigt haben.

Wir sollten nicht mehr über Selbstverständlichkeiten reden müssen wie eine Assistenz, um das Wahlbüro zu erreichen, oder dass man das Wahlbüro nach Möglichkeit ohne Treppen und mit breiten Räumen ausgestaltet. Das ist auch fast überall mittlerweile der Fall.

Aber wenn Sie das Wahllokal, eventuell mit Assistenz, erreicht haben, dass Sie dann nicht mehr bis zur Urne kommen, um zu wählen, das ist eine absurde Sache. Ich bin lange Zeit nicht darauf gekommen, dass das ein Thema sein kann. Es kann nicht sein, dass jemand gesagt bekommt: „Aufgrund der Umstände – es ist schön, dass Sie gekommen sind – können Sie jetzt keinen Zettel kriegen, um ein Kreuz zu setzen.“ Aber es zeigt, womit Sie sich in diesem Land auch beschäftigen müssen. Es muss selbstverständlich sein, dass Menschen mit Behinderung bei der Durchführung der Wahl unterstützt werden.

Neben den örtlichen und praktischen Zugangsvoraussetzungen geht es aber insbesondere bei Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen um die Frage: Wer führt eigentlich aus und trifft die Wahlentscheidung? Wir müssen sicherstellen, dass der Wähler die Entscheidung selbst getroffen hat – und das möglichst unbeeinflusst. Natürlich gibt es immer und überall Beeinflussungen, beispielsweise durch das Fernsehen oder Familie und Freunde. Da gibt es kein Schwarz und Weiß, aber es sollte sichergestellt werden, dass insbesondere durch Assistenzen, Betreuer und durch andere, die im Umfeld von Menschen mit Beeinträchtigungen sind, Wahlentscheidungen nicht verfälscht werden. Das bleibt eine Aufgabe.

Das haben wir in dieser Wahlperiode in nahezu allen Bereichen beantragt. Natürlich nicht im Privaten – dort soll jeder bauen können, wie er möchte. Im öffentlichen Bereich, beispielsweise in Arztpraxen, Einkaufsläden oder öffentlichen Einrichtungen, sollte unsere Rechtsordnung zu barrierefreier Gestaltung anhalten. Dabei geht es nicht um achtzig Jahre alte Gebäude, sondern die neu entstehende bauliche Umwelt. Natürlich kann nicht von heute auf morgen alles barrierefrei sein. Das ist alles ein Prozess des Übergangs.

Eine häufige Kritik ist, dass die barrierefreie Gestaltung zu teuer ist. Doch nur die Abweichung vom Standard ist das, was es teurer macht. Wenn irgendwann jeder barrierefrei baut, ist eine Abweichung von diesem Standard teurer. Zu diesem Punkt müssen wir kommen. Vor allem, weil zum Beispiel breitere Flure und mehr Platz nicht nur für den vermeintlichen Menschen mit Behinderung gut sind, sondern für jeden.

Was mir besonders wichtig ist: Wir haben für jede einzelne Sozialmaßnahme in den letzten vier Jahren sogar die Finanzfolgen gegenfinanziert, indem wir konkret geschaut haben, wo das Geld im Haushalt herkommt und wo es eingespart werden kann. Daran sehen Sie, dass wir uns darauf vorbereiten, dass wir unsere Versprechen halten können, wenn wir in der nächsten Legislaturperiode die Möglichkeit zur Gestaltung haben.

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Im Interview beantworten die behinderten- und teilhabepolitischen Sprecher*innen verschiedener Parteien Fragen rund um das Thema Inklusion. Hier finden Sie alle Interviews im Überblick.