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Umgang mit Menschen mit Behinderung im ÖPNV

Es gibt viele soziale Faktoren, die Menschen mit Behinderung im ÖPNV beeinträchtigen: Unfreundliche Mitreisende, gestresstes Personal und unerwünschte Hilfeleistungen. Dr. Michael Zander von der Hochschule Magdeburg-Stendal erklärt, wie sich unangenehme Situationen auf Betroffene auswirken und wie man es schafft, sich davon nicht entmutigen zu lassen.

Warum kommt es in öffentlichen Verkehrsmitteln immer wieder zu rücksichtslosem Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderung?

Speziell in den Großstädten haben die Menschen einen hektischen Alltag und nutzen den ÖPNV entsprechend: Man sucht sich im Gedränge schnell eine Lücke und ignoriert Leute, die man nicht auf Anhieb versteht und ordnet diese vielleicht als alkoholisiert ein, obwohl es sich eigentlich um eine Person mit Sprachbeeinträchtigung und Spastik handelt. Auch unaufmerksames Verhalten spielt eine Rolle, wenn Menschen von ihrem Smartphone abgelenkt sind. Und obwohl die meisten Angestellten von Verkehrsbetrieben sehr kooperativ und freundlich sind, gibt es einzelne Mitarbeitende, die einen nicht anschauen oder nicht zurückgrüßen, während sie mir als Rollstuhlfahrer die Rampe bereitstellen. Manche geben ihrem Ärger offen Ausdruck. Ich kann mir vorstellen, dass diese Ablehnung mit einer hohen Arbeitsbelastung zusammenhängt, auch wenn das keine Entschuldigung ist. Für ein weiteres wichtiges Thema halte ich ein Verhalten, das vielleicht sogar gut gemeint ist – die unerwünschte Hilfeleistung.

Können Sie das näher erläutern?

Wenn ich als gehbehinderte Person beispielsweise in den Bus einsteigen möchte und jemand greift mir unter die Arme, ohne, dass ich darum gebeten habe, dann ist das übergriffig. Vielleicht bringt es mich sogar aus dem Gleichgewicht. Menschen müssen im Alltag einfach grundlegende Höflichkeitsregeln beachten. Dass ich jemanden nicht ungefragt berühre oder jemandem ungefragt helfe, sollte selbstverständlich sein. Das gilt für eine Person mit Kinderwagen genauso wie für eine Person mit Behinderung.

Wie sollte man als Betroffene*r mit unangenehmen Situationen umgehen?

Wenn wir von alltäglichen Unfreundlichkeiten reden, ist es hilfreich, als Selbstschutz eine gewisse Dickfelligkeit zu entwickeln. Dafür muss man sich immer wieder klarmachen, dass es nicht an einem selbst liegt, wenn es Schwierigkeiten gibt. Wenn ich länger brauche, um in den Zug einzusteigen, und andere deswegen ungeduldig werden, dann ist das nicht meine Schuld. Es liegt an der mangelnden Barrierefreiheit und am Zeitdruck, den die Menschen haben. Man muss sich nicht schämen, sondern alles im Kontext der äußeren Bedingungen betrachten.

Und bei Kommentaren oder gar bei offener Diskriminierung?

Bei Kommentaren ist die Frage: Lässt man sich abschrecken? Ignoriert man es? Oder fällt einem der richtige Satz ein? Häufig fallen einem die guten Reaktionen erst im Nachhinein ein, weil man im Moment selbst so perplex ist. Und dagegen hilft nur Übung. „So gehen Sie bitte nicht mit mir um“ oder „Reden Sie nicht in diesem Ton mit mir“ sind universale Sätze, auf die man gut zurückgreifen kann. Um sich nicht entmutigen zu lassen, hilft es sehr, in der Situation für sich einzustehen, indem man deutlich anspricht, was nicht in Ordnung ist. Wenn wir über ernstere Dinge reden, über Beleidigung oder offene Diskriminierung, ist es ratsam, das Personal zu verständigen oder sogar Anzeige zu erstatten. Es geht insgesamt aber vor allem darum, sich klarzumachen, dass man nicht ohnmächtig ausgeliefert ist. Man hat Handlungsmöglichkeiten.

Portrait Dr. Michael Zander

Dr. Michael Zander


hat 2015 an der Freien Universität Berlin im Fach Psychologie promoviert. Heute vertritt er die Professur „System der Rehabilitation“ im Fach Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Disability Studies und Kritische Psychologie.

Es geht vor allem darum, sich klarzumachen, dass man nicht ohnmächtig ausgeliefert ist. Man hat Handlungsmöglichkeiten.

Dr. Michael Zander

Auch ohne direkte Diskriminierungserfahrungen plagt manche Menschen mit Behinderung ein generelles Gefühl von Unsicherheit und sie trauen sich selbstständiges Reisen nicht zu. Wie kommt dieses Gefühl zustande?

Diese Unsicherheit bezüglich des Reisens ist nicht nur auf das Verhalten anderer zurückzuführen, sondern auch auf sachliche Barrieren, die häufig noch vorhanden sind: Unvorhergesehene Fahrplanänderungen sind für alle Fahrgäste nervig, aber für Menschen mit Behinderung können sie die Weiterfahrt fast unmöglich machen. Die brauchen Planungssicherheit und Zuverlässigkeit und reisen daher immer mit einer kleinen Menge Anspannung. Auch da spielt Übung eine wichtige Rolle. Man stärkt sein Selbstbewusstsein, indem man sich immer mehr an das Reisen gewöhnt. Mit Blick auf das Zwischenmenschliche ist meine Alltagserfahrung, dass es tendenziell eine Aggressionshemmung gegenüber Menschen mit Behinderung gibt. Das heißt nicht, dass es keine Aggressionen gibt, aber sie werden meist nicht ausgesprochen oder gezeigt, sondern liegen unausgesprochen in der Luft. Spürbar sind sie möglicherweise trotzdem.

Wie können sich Betroffene davon nicht einschränken und entmutigen lassen?

Es wäre natürlich wünschenswert, jederzeit mit dem Wohlwollen anderer rechnen zu können, man darf sein Handeln aber nicht davon abhängig machen. Was die anderen Leute über mich denken, ist nicht mein Problem. Allein der Umstand, dass Menschen mit den verschiedensten Einschränkungen unterwegs und sichtbar sind, verändert schon etwas. Wenn Betroffene trotz der Schwierigkeiten den ÖPNV nutzen, trainieren sie ihr Selbstbewusstsein und üben sich in der Konfrontation mit den eigenen Sorgen und Unsicherheiten. Gleichzeitig sorgen sie aber auch für die Präsenz von Menschen mit Behinderung im öffentlichen Raum und bewirken so nach und nach mehr Akzeptanz.

Was können Verkehrsbetriebe, Gewerkschaften und Kommunen tun?

Verkehrsbetriebe und Gewerkschaften können vor allem ihre Mitarbeitenden schulen. Sie sollten aber auch die Arbeitsbedingungen so verbessern, dass es für das Personal leicht und selbstverständlich ist, Menschen bei ihrer Reise zu unterstützen. Wenn der Fahrer beispielsweise aus der Straßenbahn aussteigen muss, um einem Fahrgast mit Rollstuhl in die Bahn zu helfen, ist das bei einer ohnehin hohen Belastung ein großer zusätzlicher Stressfaktor. Kommunen können die Infrastruktur verbessern und so zumindest die Rahmenbedingungen für barrierefreie Mobilität schaffen. Wenn die Bedingungen gut sind, verbessert sich in der Regel auch der Umgang der Menschen miteinander.

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