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Barrierefreie Mobilität – Schlüssel zur Teilhabe

Ottmar Miles-Paul kämpft als Aktivist, Politiker und Publizist seit vielen Jahren für Barrierefreiheit. Im folgenden Beitrag bringt er auf den Punkt, warum ihr gerade beim Thema Mobilität eine Schlüsselrolle für die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung am gesellschaftlichen Leben zukommt.  
Mal schnell ins Auto oder in den Bus steigen und Freunde besuchen oder an einem Vereinstreffen teilnehmen, Fahrten zum Arzt, zum Einkaufen oder spontan einen Ausflug machen – all das ist für viele Menschen in Deutschland möglich, ohne dass sie sich darüber Gedanken machen müssen. Es gibt aber auch viele, für die sich die Mobilität aufgrund verschiedener Barrieren wesentlich schwieriger gestaltet, wie das vorliegende Inklusionsbarometer Mobilität 2022 zeigt. Eine umfassende barrierefreie Mobilität ist jedoch ein zentraler Schlüssel zur sozialen Teilhabe. 

Physische Barrieren erschweren den Zugang 

Wenn über barrierefreie Mobilität gesprochen wird, geht es meist um fehlende Rampen, Aufzüge oder Toiletten, die die gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Körperbehinderung, Eltern mit Kinderwagen oder ältere Menschen erschweren. Tatsächlich besteht hier in Deutschland immer noch erheblicher Handlungsbedarf. Umfassend barrierefrei nutzbare Busse, Bahnen, Haltestellen, Gehwege, Ampeln, Toiletten oder Gebäude sind leider immer noch nicht die Regel. Eine Reihe von Aktivitäten ist für Betroffene nicht oder nur eingeschränkt möglich, und sie müssen sich gut informieren, um nicht vor unüberwindbaren Barrieren zu stehen. Für viele, die sich für Barrierefreiheit einsetzen, ist dieser Zustand unverständlich, weil Länder wie die USA oder Großbritannien schon seit vielen Jahren klare Regelungen zur Barrierefreiheit von öffentlichen Verkehrsmitteln und Gebäuden verabschiedet und weitgehend umgesetzt haben. Es braucht auch in Deutschland endlich umfassende und einklagbare gesetzliche Regelungen und vor allem eine konsequente Beteiligung von Menschen mit Behinderung und von sozial benachteiligten Menschen bei der Planung und Umsetzung entsprechender Maßnahmen. Denn wer in seiner Mobilität massiv eingeschränkt wird, hat auch weniger Möglichkeiten, gleichberechtigt am sozialen Leben teilzunehmen. 
 
Ottmar Miles-Paul - ein Mann mit kurzen, grauen Haaren - steht vor dem Brandenburger Tor. Im Hintergrund sieht man unscharf weitere Menschen.
Ottmar Miles-Paul ist Sprecher der LIGA Selbstvertretung. Er setzt sich für die Gleichstellung und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung, unter anderem auch für einen barrierefreien Personennah- und Fernverkehr, ein.

Finanzielle Barrieren verhindern die Teilhabe 

Eine barrierefreie Mobilität geht weit über einen stufenlosen Zugang hinaus. Für viele Menschen stellen die für sie zu hohen Kosten eine unüberwindbare Barriere dar. Wenn man als Mensch mit wenig Geld für eine Fahrt in die Stadt und zurück über 5 Euro bezahlen muss, kann man vielen Aktivitäten schlichtweg nicht nachgehen. Etwa dem Engagement in einem Verein, Treffen mit Freund*innen oder dem für viele selbstverständlichen Besuch von Angehörigen. Die Nutzung eines eigenen Fahrzeugs ist aufgrund der hohen Anschaffungs- und Unterhaltskosten meist nicht möglich. Gerade im ländlichen Raum ohne gute Beförderungsangebote sorgt dies für Probleme. Die Folgen sind nicht selten Rückzug aus sozialen Beziehungen, Scham, sich Fahrten nicht leisten zu können, oder weniger Bildungschancen, weil der Besuch von Volkshochschulkursen oder die Teilnahme an Veranstaltungen wegen der Mobilitätskosten zu teuer ist. Der dreimonatige Versuch mit dem 9-Euro-Ticket vom 1. Juni bis 31. August 2022 hat trotz teilweise überfüllter Züge Türen für eine verbesserte und gleichberechtigte soziale Teilhabe geöffnet. Viele, die weniger Geld zur Verfügung haben, konnten Fahrten unternehmen, die vorher undenkbar waren. Vor allem die Einfachheit der Nutzung des Angebots und dessen bundesweite Einheitlichkeit hat viele Unsicherheiten genommen und auch diejenigen, die bisher kaum oder gar nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs waren, ermutigt, das Angebot auszuprobieren. Gleichzeitig hat der Versuch viele Lücken im derzeitigen Verkehrsangebot aufgezeigt und zum Teil dazu geführt, dass vor allem behinderte Menschen wegen überfüllter Züge nicht mitgenommen werden konnten. 
 

Barrieren bei Informationen verunsichern und schließen aus

Die Bedeutung von Barrieren bei Informationen wird häufig unterschätzt. Während Bahnfahrten lösen schlechte oder fehlende Informationen darüber, was eine Störung verursacht hat, wie lange die Störung dauert oder welche alternativen Anschlussmöglichkeiten es gibt, oft mehr Ärger aus als das Problem selbst. Wenn Menschen im Ungewissen gelassen werden, was los ist und wann es wie weitergehen könnte, verunsichert dies. Selbst wenn der Anschlusszug erreicht wird oder die Verspätung kürzer als gedacht ist, bleibt oft ein schlechtes Gefühl. Bei Busfahrten werden viele Menschen immer wieder mit fehlenden oder nur schlecht verständlichen Haltestellendurchsagen konfrontiert. Für schwerhörige und gehörlose Menschen gibt es häufig keine schriftlichen Anzeigen. Sobald ich merke, dass mir wichtige Informationen fehlen, schwindet für mich der Fahrkomfort erheblich. Es entsteht Angst, die richtige Haltestelle zu verpassen. Selbst wenn ich den Busfahrer bitte, die Haltestelle durchzusagen, kann ich mich nicht hundertprozentig darauf verlassen. So wird eine für viele ganz normale Busfahrt zum Stress. Für Menschen, die immer wieder Diskriminierungen erleben, sind solche Erfahrungen prägend. Sie wirken sich nicht nur negativ auf die erlebte Situation, sondern auch auf künftige Erwartungen aus. Dies kann dazu führen, dass man soziale Aktivitäten einschränkt. Auch die Verständlichkeit von Informationen ist ein wichtiger Schlüssel für eine barrierefreie Mobilität. Der Charme des 9-Euro-Tickets bestand unter anderem darin, dass man sich nicht durch den Tarifdschungel der verschiedenen Verkehrsanbieter kämpfen musste. Es erlaubte die Nutzung fast aller Verkehrsmittel im Nah- und Regionalverkehr, ohne verschiedene Tickets an häufig komplizierten Ticket-Automaten oder mit Apps kaufen zu müssen, die nicht für alle verständlich und verfügbar sind. Informationen in Leichter Sprache mit Symbolen und Bildern sind oft Mangelware. Auch Hinweise in Gebärdensprache oder mittels gut verständlicher Akustik im Zwei-Sinne-Prinzip sind wichtig für barrierefreie Mobilität.

Skizze: eine Person sitzt am Lenkrad eines Autos und fährt über eine Landstraße.

Das ist eine Vision, für die sich der Einsatz lohnt.

Barrierefreie und sozial gerechte Mobilität ist möglich

Hätte mir jemand vor zwei Jahren erzählt, dass wir in Deutschland ein 9-Euro-Ticket haben werden, hätte ich dies als Utopie abgetan. Dieses Beispiel zeigt mir, dass es sich lohnt, sich für eine barrierefreie und sozial gerechte Mobilität mit einem entsprechend guten Angebot – auch im ländlichen Bereich – zu engagieren. Stellen wir uns vor, dass wir alle ohne länger darüber nachdenken zu müssen in regelmäßig fahrende, für alle barrierefreie Busse und Bahnen steigen können, um Leute zu besuchen, Termine wahrzunehmen, einzukaufen, eine Reise zu machen oder einfach nur einen Kaffee in der Stadt zu trinken. Und dass die dafür nötigen Informationen für alle verständlich und freundlich bereitgestellt werden. Stellen wir uns vor, dass unsere Stadtteile so ausgerichtet sind, dass alle Angebote gleichberechtigt genutzt werden können und die Bürger*innen entsprechend beteiligt werden. Das ist eine Vision, für die sich der Einsatz lohnt. 

Dieser Beitrag ...

ist als Gastbeitrag in der Studie Inklusionsbarometer Mobilität 2022 erschienen, für die das Meinungsforschungsinstitut Ipsos im Auftrag der Aktion Mensch Menschen mit und ohne Behinderung nach ihren Mobilitätserfahrungen befragt hat.


Die Studie selbst finden Sie hier

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