Das wir gewinnt

„Ich wünsche mir eine Politik, die jeden mitnimmt“

Sören Pellmann, teilhabepolitischer Sprecher der Linken, erklärt, wie sich seine Partei in der kommenden Legislaturperiode für mehr Inklusion und Teilhabe einsetzen möchte. Besonders wichtig sind ihm eine faire Bezahlung und mehr Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung.
Porträtbild eines Mannes im Anzug mit runder Brille.

Über

Sören Pellmann, geboren 1977, ist seit 2017 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Leipzig Süd. Der studierte Grund- und Förderschullehrer setzt sich in seiner Fraktion als Sprecher für Inklusion und Teilhabe für die Belange von Menschen mit Behinderung ein. Außerdem ist er seit 2011 Fraktionsvorsitzender der Stadtratsfraktion in Leipzig tätig und seit 2019 Vorsitzender des Leipziger Sozialausschusses.
Politik, die nicht ausgrenzt, die alle mitnimmt – unabhängig von Einschränkungen, Handicaps, Besonderheiten in jedwede Richtung. Es ist noch ein weiter Weg bis zu einer inklusiven Gesellschaft. Richtig inklusiv leben wird dann erst wirklich, wenn wir nicht mehr das Besondere hervorheben und drüber reden, sondern wenn das einfach läuft. Aber als Pädagoge, der mal für Förderschulen ausgebildet worden ist, bin ich eigentlich ganz hoffnungsfroh, dass wir dieses Ziel noch gemeinsam erreichen werden.
Wir haben im Themenbereich Inklusion, und das ist eine Besonderheit im Vergleich zu anderen Politikfeldern, sehr intensiv mit den Grünen und den Freien Demokraten zusammengearbeitet. Wir haben umfangreiche Anträge zum inklusiven Arbeitsmarkt vorgelegt, Anträge zu inklusiver Bildung, nicht nur den schulischen Teil betreffend, sondern auch die vorschulische Bildung, die Ausbildung und das Studium, und wir hatten als Schwerpunkt eine vollumfängliche Barrierefreiheit mit allein zehn einzelnen Anträgen, beispielsweise zu baulichen Barrieren, Barrieren, die weiterhin im Internet bestehen, im Tourismus, beim öffentlichen Personennahverkehr. Doch Mehrheiten für diese Anträge sind in dieser Wahlperiode leider nicht zustande gekommen. Wir drei Fraktionen hatten vor der Europawahl 2019 auch gemeinsam den Gang zum Verfassungsgericht nach Karlsruhe beschritten, als es darum ging, dass zur Europawahl Menschen mit Behinderung, die unter Vollbetreuung stehen, vom Wahlrecht ausgeschlossen bleiben sollten, und dagegen erfolgreich geklagt. Dadurch haben 85.000 Menschen, die bis dahin ausgeschlossen waren von jeglichen Wahlen, das Wahlrecht bekommen. Das war ein schöner gemeinsamer Erfolg, auch für mich persönlich.
Die Bundesregierung hat das Budget für Arbeit auf den Weg gebracht, das ist zu begrüßen. Ebenso das Budget für Ausbildung, auch wenn da nicht alles so ausformuliert ist, wie wir uns das gewünscht hätten. Aber es ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Was allerdings die Gesetzgebung zur Barrierefreiheit oder die Verbesserungen und Auslegung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) betrifft, da ist viel im Nebel herumgestochert worden, und die beiden Regierungsfraktionen haben sich immer wieder den Schwarzen Peter hin- und hergeschoben. Für den nächsten Deutschen Bundestag steht für uns zumindest die Reformierung beziehungsweise Fortschreibung des BTHG ganz oben auf der Liste.
Ich glaube, beides ist wichtig. In unserer Fraktion gibt es zwei Abgeordnete, die keine sichtbare Behinderung haben, die aber schwerbehindert sind. So ähnlich ist es in fast allen Fraktionen, glaube ich. Für die beiden aus unserer Fraktion ist Behinderung nicht ihr Themengebiet. Sie haben zwar ein Handicap, aber sie haben es bewusst nicht zu ihrem politischen Fachbereich gemacht. In meiner Anfangszeit kam es mir persönlich nachteilig vor, wenn ich mit Vereinen oder Verbänden sprach, dass ich selbst keine Behinderung habe. Dennoch glaube ich, dass auch Menschen, die selbst nicht betroffen sind, gute Politik für Menschen mit Handicap machen können. Meine beiden Eltern waren beziehungsweise sind schwerbehindert. Ich habe auch während meines Zivildienstes mit Menschen mit Behinderung gearbeitet oder während meiner Ausbildung. Ich bringe also einen gewissen Einblick in die Situation mit. Aber, um den Blick nach vorn zu richten: Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass auf Platz 6 unserer sächsischen Liste für die nächste Bundestagswahl ein Mensch mit Schwerbehinderung steht. Wir haben derzeit sechs Abgeordnete aus Sachsen für DIE LINKE im Bundestag. Das ist also kein aussichtsloser Listenplatz.
Ich war in fast allen Bundesländern in Werkstätten. Allein, was die Auftragslage betrifft, geht tatsächlich noch ein Schnitt durch Ost und West. Die Werkstätten in NRW oder auch in Baden-Württemberg oder Bayern sind von ihren Aufträgen her völlig anders strukturiert als im Osten. Sie haben über große Firmen und Konzerne ein Paket an regelmäßigen Bestellungen und Einnahmen. Ostdeutsche Werkstätten dagegen bekommen in der Regel nur kleinteilige Aufträge und haben viel Arbeit damit, immer wieder neue Aufträge reinzuholen. Das heißt, die Einnahmesituation ist im Osten deutlich schlechter, und das spielt dann auch bei der Auszahlung eine Rolle. 
Das ist ja eine Forderung, die wir schon lange haben, nach einem gesetzlichen Mindestlohn für die Werkstätten. Dazu stehe ich und auch zu einer deutlichen Annäherung der Löhne. Das, was da bezahlt wird, ist eigentlich kein Lohn, sondern nur ein ganz geringes Entgelt für das, was dort geleistet wird. Bis zum gesetzlichen Mindestlohn in Werkstätten wird es noch ein weiter Weg sein, weil es fraglich ist, wie das finanziert werden kann. Und wenn man über den inklusiven Arbeitsmarkt und den Weg von den Werkstätten dorthin diskutiert, muss auch bedacht werden, wie man mit dem Renten-Sonderversorgungssystem der Werkstattbeschäftigten umgeht. Das wollen die Werkstattbeschäftigten verständlicherweise behalten. Es ist ein langer Weg, und ich glaube, wir werden die Werkstätten noch eine ganz lange Zeit brauchen. Aber sie müssen besser finanziert sein. Die Anhebung der Werkstattentgelte wird wahrscheinlich nicht ohne Zuschüsse gehen. Aber wenn ich mir anschaue, dass einige Werkstattbeschäftigte ja trotz ihrer Arbeit noch in die Grundsicherung beziehungsweise in die Aufstockersituation kommen, wäre man gut beraten, ihnen das Geld besser gleich als Lohn statt über die Jobcenter zu geben. Das ist auch für die Wertschätzung der Beschäftigten besser.
Derzeit liegt die vorgegebene Schwerbehindertenquote bei fünf Prozent ab 20 Beschäftigten. Wir haben 43.000 Unternehmen in Deutschland, die keine einzige schwerbehinderte Person beschäftigen, obwohl sie das müssten. Ich bin der festen Überzeugung, es muss ihnen finanziell wehtun. Das, was sie jetzt zahlen, können sie sogar noch von der Steuer absetzen. Das ist ein Hohn. Deswegen zwei Dinge: zum einen die Ausgleichsabgabe deutlich anheben und zweitens die steuerliche Abschreibbarkeit sofort streichen. Ab 1.000 Euro pro Platz und Monat tut es weh. Häufig hört man ja: Schwerbehinderte seien nicht so leistungsfähig, öfter krank – all diese Vorurteile. Wenn aber beim Unternehmerstammtisch einer sitzt, der einen Menschen mit Beeinträchtigung in sein Unternehmen integriert hat, und erzählt: Hört mal, wie gut es bei mir geklappt hat. Wie gut ich betreut wurde durch das Integrationsamt, durch die Integrationsfachdienste, Arbeitsagentur … da ginge richtig was. Wenn solche Beispiele mehr publik würden, ist noch viel möglich. 
Ich habe tatsächlich die Hoffnung, dass wir über die Generationen hinweg irgendwann die inklusive Schule haben und nicht mehr darauf angewiesen sind, dass man dieses System der Förderschulen weiter betreiben muss. In der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern hat sich da auch schon viel getan, wenn ich die heutige mit meiner Ausbildung vergleiche. Wichtig wäre allerdings, weil die Besonderheiten der Schülerinnen und Schüler ja trotz alledem da sind, dass man in Teams unterrichtet, also mit zwei Lehrerinnen oder Lehrern in einer Klasse, gerne auch in kleineren Klassen. Denn dann können sie auf die Herausforderungen und individuellen Stärken und Schwächen der Schülerinnen viel besser eingehen, als wenn das einer oder eine allein macht. Ich selbst hatte in meiner letzten Klasse, die ich vom ersten bis fast zum vierten Schuljahr hatte, 27 Schülerinnen und Schüler – sieben davon mit Integrationsstatus. Da kommt man ohne Unterstützung an Grenzen.

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