Das wir gewinnt

Lieber Arm ab als arm dran

Material für die Arbeit mit Jugendlichen zum Thema "Anderssein"
Warenkorb (0)
"Eigentlich ist die Behinderung ja gar nicht schlimm. Blöd nur, dass alle Leute, die uns nicht kennen, das immer denken." Diesen Satz habe ich als Kind einmal zu meinem Vater gesagt – auch heute noch spricht er mir aus dem Herzen. Er beschreibt einen Konflikt, dem ich bei Fremden immer wieder begegne. Wie meinem Vater fehlen mir seit Geburt beide Arme: Mein Vater hat zwei, ich eine kleine Hand mit drei Fingern. Meine Füße sind daher zu "meinen Händen“ geworden; mit ihnen führe ich mein Frühstücksbrötchen unfallfrei zum Mund, seife mich beim Duschen ein, zocke damit Playstation und tippe in einem ausgeklügelten 4-Zehen-System diesen Artikel. In der Öffentlichkeit aber führt dieses "ungewöhnliche“ Erscheinungsbild dazu, dass uns Passanten häufig so viel Aufmerksamkeit zuwenden wie sonst nur der Super-Prominenz. Als Reaktion scherzte mein Papa früher zu meiner Schwester: "Komm, nimm mal meinen Hut und sammle ein bisschen Geld von unseren Zuschauern ein.“ Auf diese Form der Taschengeld-Erweiterung mochte meine ältere Schwester allerdings lieber verzichten.

Eigentlich ist die Behinderung ja gar nicht schlimm. Blöd nur, dass alle Leute, die uns nicht kennen, das immer denken.

In mittlerweile 19 Jahren, die ich offensiv durchs Leben gehe, habe ich fast alle denkbaren Reaktionen auf meine Behinderung kennengelernt. Neben schockierten Gesichtern, vornehmlich bei älteren Leuten ("Sie tun mir sooo leid! Das muss wirklich hart für Sie sein!"), sind es oft Kinder, die ungehemmt aussprechen, was sich bei manchem Erwachsenen nur im Gesicht ablesen lässt ("Warum hat der Mann so einen kleinen Arm?“). Während die Eltern dann schnell in Verlegenheit geraten, habe ich gelernt, gelassen damit umzugehen. Wer mir direkt eine Frage stellt, dem antworte ich. Wer zu aufdringlich oder gar verachtend wird, von dem grenze ich mich gegebenenfalls schroff ab. Meine Körpergröße von zwei Metern hilft mir dabei, nicht jede Emotion an mich heranzulassen – sie trifft mich meistens dann ja nicht mehr auf Augenhöhe. Generell habe ich mir eine eigennützige Ignoranz angeeignet, durch die mir längst nicht mehr jeder "Glotzer“ auffällt. "Boah, hat die dich im Zug gerade angestarrt!“, kriege ich mitunter von Kumpels zu hören, worauf ich eher trocken reagiere: "Echt? Gar nicht mitbekommen.“

Wenn ich einfach die spannendste Person weit und breit bin

Neulich im Zug: Ich sitze allein auf einem Vierersitz, als ein kleiner Junge gut gelaunt durch den Wagen marschiert. Seine Mutter dahinter ruft ihm nach, er solle sich einen freien Platz suchen. Diesen findet er ausgerechnet bei mir gegenüber. Ich ahne schon den typischen Stimmungswechsel, als mich der etwa Dreijährige anschaut. Wir sehen uns für einen Moment an, da dreht sich der Junge zu seiner Mutter und sagt: "Mama, der Mann hat einen Hut auf!“ "Ja, du hast zu Hause auch einen Hut – den kannst du auch mal wieder anziehen.“, erwidert sie.  - Ich glaube, ich sollte unterwegs immer einen Hut aufsetzen.

Aus den unzähligen Erfahrungen rechne ich in Situationen meist schon mit einer bestimmten Reaktion. Umso schöner, wenn meine Erwartungshaltung in einzelnen Erlebnissen dann ausgehebelt wird. Wer mich kennt und gelernt hat mit mir umzugehen, sieht mein Handicap gar nicht mehr bewusst. 

Mir passiert es zum Beispiel immer wieder, dass ich auf Schulterhöhe Dinge hingehalten bekomme – auch wenn ich sie eigentlich lieber mit dem Fuß entgegennehmen würde. Und selbst Leute, die mich nicht kennen, sehen meine Behinderung nicht immer auf den ersten Blick. Ob behindert oder nicht, entscheidend ist aus meiner Sicht das eigene Bewusstsein: Halte ich mich selbst für wertvoll? Bin ich mit meiner Lebenssituation zufrieden? Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich diese beiden Fragen mit "Ja“ beantworten kann. Es hat vor allem damit zu tun, dass ich von meiner Familie seit meiner Geburt uneingeschränkte Annahme und Liebe erfahren habe. Es wird verstärkt durch meinen Glauben an Gott, der mich als richtig und wertvoll ansieht. 

Wenn es mal wieder heißt: Bitte die Hände heben!

Cocktailtrinken an der Alster: Meine Freunde und ich sitzen draußen im Café, alle in dicke Jacken gehüllt. Als der Kellner zu uns an den Tisch kommt, blafft er mich plötzlich an: "Wo hältst du denn deine Arme versteckt?“ Reflexartig ziehe ich meine rechte Hand aus der Jacke und entgegnete perplex: "Ich halte nichts versteckt.“ Der Mann begreift aber immer noch nicht: "Komm, hol mal deine Arme hervor!“ Irgendwann versteht er schließlich. Diese für uns beide eher unschöne Begebenheit endet schließlich doch im Plus, als der peinlich berührte Kellner beim Bezahlen zu mir meint: "Lass gut sein, dein Cocktail geht auf mich.“

Bei mir entwickeln sich banale Situationen kurzerhand immer wieder in kuriose Begebenheiten, über die ich spätestens im Nachhinein herzhaft lachen kann. Gerne nehme ich meine Behinderung mit einer selbstironischen Bemerkung aufs Korn. Es schafft Lockerheit, baut Hemmschwellen ab.

Wenn ich Witze über meine Behinderung reiße

An der Reaktion meines jeweiligen Umfelds erkenne ich, wie gut dieses mich kennt. Wenn ich beispielsweise Witze über meine Behinderung reiße, gucken mich Leute, die mich noch nicht näher kennen, verdutzt an. Sie wissen nicht, ob sie lachen dürfen. Erst beim zweiten oder dritten Scherz merken sie, dass ich damit einfach nur lustig sein möchte und können sich dann manchmal gar nicht mehr einkriegen.

Ist mein Leben also nun ein unbeschwertes Comedy-Programm, gespickt mit Lachnummern? Nein, das wäre ebenso falsch wie die Annahme vieler, ich hätte es grundsätzlich schwerer als andere. Auf meine zunehmende Selbständigkeit, die ich vor allem seit der Pubertät vorangetrieben habe, bin ich sehr stolz.

Gerne würde ich Freunde mit ausgebreiteten Armen umarmen.

Doch in bestimmten Momenten empfinde ich meine Behinderung auch einfach nur als richtig blöd: Die Laufschuhe selbst schnüren, meinen Koffer ins Gepäckfach heben oder mich mal schnell in 10 Minuten frisch machen und umziehen, das wünsche ich mir manchmal. Gerne würde ich gute Freunden bei einem Wiedersehen mit ausgebreiteten Armen umarmen. 

Auch wünsche ich manchmal, überzeugter davon zu sein, dass mir Frauen nicht wegen meiner Behinderung nachschauen. Ebenso bin ich nicht immer gelassen, wenn ich im Bus sitze und eine Kindergartengruppe einsteigt, bei der ich mir sicher sein kann, dass ich nach spätestens einer halben Minute das Gesprächsthema sein werde.

Mein Vater sagt gerne: "Ich kenne keine Nichtbehinderten.“ Dieser Ausspruch trifft es einfach! Denn auch ich habe noch nie jemanden näher kennengelernt, der nicht in irgendeiner Form behindert ist. Jeder von uns ist hilfebedürftig; wichtig ist, sich dies selbst auch einzugestehen. Da habe ich es doch vergleichsweise gut: Bei mir ist das auf den ersten Blick erkennbar, so kann sich jeder sehr schnell darauf einstellen und lernen, angemessen damit umzugehen. 

Text: David Hock