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Nujeen Mustafa: Eine geflüchtete Frau mit Behinderung erzählt

Die Kurdin Nujeen Mustafa (22) floh 2015 gemeinsam mit ihrer Schwester aus Syrien. Sie lebt mit einer spastischen Lähmung. Als Botschafterin für die Initiative „Empowerment Now“ von Handicap International setzt sie sich für die Rechte von geflüchteten Menschen mit Behinderung ein. In diesem Text erzählt sie von ihren Flucht-Erfahrungen und von ihrem Engagement.
Eine junge Frau sitzt in einem abgedunkelten Zimmer, im Hintergrund leuchtet ein Globus
Nujeen Mustafa

Nujeen Mustafa erzählt 

„Insgesamt hat meine Flucht nach Deutschland eineinhalb Jahre gedauert. Ich bin allein mit einer meiner Schwestern geflohen, der Rest der Familie musste in Syrien bleiben. Ein Jahr lang waren wir in der Türkei. Dort waren wir zwar vor dem Krieg sicher. Aber ansonsten hatte sich nichts geändert. Schon in Syrien konnte ich wegen meiner Behinderung nicht eingeschult werden. Und auch in der Türkei hatten meine Schwester und ich keinen Zugang zu Bildung oder Arbeit. Und für Menschen mit Behinderung gab es keine Infrastruktur. 

Dann hörten wir, dass die Grenzen offen waren und dass es einfacher war, nach Deutschland zu reisen. Das war unsere letzte Chance, deshalb brachen wir auf. Unser Weg führte über viele Grenzen: von der Türkei nach Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich bis nach Deutschland. Wir benutzen viele verschiedene Transportmöglichkeiten. Ich wurde oft im Rollstuhl geschoben. Wir fuhren mit Bussen und Zügen. Und auch mit einem Boot, das uns von der Türkei nach Griechenland brachte. Es war nicht einfach. 

Oft waren die Leute überrascht, mich zu sehen. Das verstehe ich nicht. Im Krieg kann man sich doch auch schnell verletzen und verliert vielleicht einen Arm, ein Bein oder die Sehkraft. Die Wahrscheinlichkeit, dass da mehr Menschen mit Behinderung kommen, ist doch groß. Denken die Leute, behinderte Menschen werden einfach zurück gelassen?

Für geflüchtete Menschen mit Behinderung ist es wichtig, mehrsprachige Dokumente oder Dokumente in Leichter Sprache zur Verfügung zu stellen. Und man sollte in die Potenziale dieser Leute investieren. 

Nujeen Mustafa

Die erste Zeit in Deutschland  

Die erste Zeit in Deutschland brachte viel Neues für mich. Es gab so viele Regelungen und Bürokratie. Jeden Tag kam Post auf Deutsch, die wir nicht verstehen konnten. Ich war damals 16 Jahre alt und ohne Eltern hier, deshalb habe ich eine Frau als Vormund bekommen. Das war erst mal ungewohnt: Eine fremde Frau, die für mich entscheiden darf. Aber es hatte auch positive Seiten, weil sie uns viel Bürokratie abgenommen hat. Wir wollten ja nichts falsch machen, nach all den schrecklichen Erfahrungen, die hinter uns lagen. 

Ich hatte das Glück, als Minderjährige noch eingeschult zu werden. Volljährige geflüchtete Menschen haben darauf keinen Rechtsanspruch. Mit 17 Jahren bin ich zum ersten Mal zur Schule gegangen und habe dort viel Unterstützung erlebt. Ich konnte auch schnell Deutsch lernen. So wurde ich zur „lebenden Datenbank“ für andere Geflüchtete, die wissen wollten, wie das deutsche System funktioniert. Mittlerweile habe ich meine Mittlere Reife und gehe zur Berufsschule. Ich hoffe, nächstes Jahr erreiche ich die Fachhochschulreife. 

Meine erste Wohnung war nicht behindertengerecht. Aber jetzt lebe ich mit meiner Schwester in einer barrierefreien Wohnung in Wesseling, das liegt zwischen Köln und Bonn. Nun bin ich viel unabhängiger. Ich kann meine Ausbildung fortsetzen und war zum ersten Mal im Leben im Kino, Theater und Museum. Ich führe ein ganz normales Leben. 

Weil ich die Sprache schnell lernen konnte, war mein Integrationsprozess relativ leicht. Aber ich weiß, dass es anderen nicht so geht. Als geflüchteter Mensch hat man schnell einen Überblick, welche Pflichten man hat. Die eigenen Rechte kennt man nicht so gut. Ich habe erst im Nachhinein erfahren, dass ich wegen meiner Behinderung zum Beispiel ein Recht darauf habe, den Nahverkehr kostenlos zu benutzen. 

Als Selbstvertreterin bei Handicap International setze ich mich dafür ein, dass geflüchtete Menschen mit Behinderung besser zu ihren Rechten kommen. Ich finde den Gedanken der Selbstvertretung gut. Oft setzen sich Organisationen oder Einzelpersonen für Menschen mit Behinderung ein. Doch wir sind nicht nur auf die Hilfe anderer angewiesen. Wir können auch für uns selbst stehen und zeigen, wer wir sind und was wir können. Und wir können selbst für unsere Rechte eintreten.  

In die Potenziale Geflüchteter mit Behinderung investieren

Besonders wichtig finde ich, die Lebenswelten von behinderten und nicht behinderten Menschen nicht zu trennen. Deshalb ist es gut, wenn alle Kinder mit unterschiedlicher Herkunft zusammen zur Schule gehen. Dann lernt man von Anfang an, dass das normal ist. Ich möchte gerne zeigen: Ich bin gar nicht so anders. Ich habe die gleichen Träume und Wünsche wie andere junge Leute. Ich möchte einen Abschluss haben. Ich möchte mal eine Weltreise machen. 
Für geflüchtete Menschen mit Behinderung ist es wichtig, mehrsprachige Dokumente oder Dokumente in Leichter Sprache zur Verfügung zu stellen. Und man sollte in die Potenziale dieser Leute investieren. Mehr barrierefreie Sprachkurse sind dazu wichtig. Und dass es nicht so lange dauert, bis man in der Gesellschaft ankommt und am Arbeitsleben teilhaben kann. Alle Menschen sollten einen Zugang dazu haben, egal woher sie kommen oder welche Form der Behinderung sie haben.“  

 
Eine junge Frau sitzt mit geschlossenen Augen und Kopfhörern in einem Sessel

Video von Handicap International über Nujeen Mustafa

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