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Hürden bei der Jobsuche

René*, 17 Jahre alt, ist trans und hat eine chronische Tic-Störung. Das macht die Arbeitssuche nicht leichter. Trotzdem geht er offen mit seinen Besonderheiten um.
René sitzt an seinem Schreibtisch und malt mit einem Pinsel.

Als René klein war, nannte er sich „Mädchenjunge“. Dass sein biologisches Geschlecht nicht das richtige ist, ahnte er früh. „Mit 14 habe ich dann zum ersten Mal den Begriff „trans“ gehört und gleich gedacht: Verdammt, ist es das?“ Er kämpfte mit sich, hatte mit 15 Jahren schließlich das Coming Out als Junge: Aus Renée wurde René. Seine Familie akzeptierte bald, dass aus der Tochter und Schwester ein Sohn und Bruder geworden war.

Doch es sollte nicht bei diesem Einschnitt bleiben. „Plötzlich musste ich mich ständig räuspern“, sagt René. Als er dazu beim Essen das Besteck nicht mehr halten konnte, weil die Hände zuckten, und er über Stunden zwanghaft Wörter wiederholte, wurde den Eltern klar: Ihr Sohn suchte nicht nach Aufmerksamkeit – er war krank. Bei René wurde eine Tic-Störung diagnostiziert. „Da kam ich mir schon verarscht vor“, sagt er selbstironisch. „Erst erkenne ich, dass ich trans bin, dann fange ich auch noch an, komische Geräusche zu machen.“

Unverständnis der Mitmenschen

René, 17, bunte Haare, Latzhose, Kapuzenpulli, sitzt beim Chinesen in seiner Heimatstadt, vor sich Hähnchen mit Austernsoße, die er besonders mag. Männliche Hormone nimmt er noch nicht, die Mutter möchte, dass er damit wartet, bis er volljährig ist. Er bedauert das, weil er mit seiner hellen Stimme oft für deutlich jünger gehalten wird. Während er erzählt und isst, dreht er immer wieder kurz den Kopf zur Seite und pfeift, mal zuckt ein Arm, mal schlägt er sich mit der Faust vor die Brust. Das sind seine Tics: zwanghaft ausgeführte Geräusche und Bewegungen.

Ständig stößt René damit auf Unverständnis. „Ich bin aus Restaurants, Kinos und der Bibliothek geworfen worden. Wenn ich versuche mich zu erklären, heißt es bestenfalls: Schön, aber es stört trotzdem.“ Schmerz und Stress verstärken die Tics bei ihm, auch flackerndes Licht, wie es in Discos oder Bars genutzt wird. „Dass Dinge wie die Art der Beleuchtung diskriminierend sind, weil manche Leute deshalb nicht in die Disco gehen können, ist vielen nicht klar.“

Den Stress aus der Situation nehmen

Allgemein bekannt ist vor allem ein Symptom chronischer Tic-Störungen: die Koprolalie, das Hervorstoßen von Schimpfwörtern. Dabei betrifft es nur einen kleinen Teil der Erkrankten. René gehört nicht dazu, muss sich dennoch Witze darüber anhören. „Schade, dass die meisten Menschen sich erst gar nicht die Mühe geben, eine Behinderung zu verstehen“, sagt er. „Das würde alles so viel einfacher machen.“

René sitzt in einem bunten Pullover auf einer Schaukel.

Renés Strategie gegen komische Blicke und Sprüche ist der erklärende Angriff nach vorn: „Ich sage lieber gleich, dass ich Tics habe, wenn ich jemanden kennen lerne oder mich in einer Gruppe vorstelle. Das nimmt den Stress aus der Situation – auch für mich.“ Wird er in der Bahn oder auf der Straße blöd angestarrt, sagt er manchmal nur trocken: „Ich habe eine Tic-Störung. Googeln Sie das einfach!“

Erfolglos bei der Jobsuche

Besonders hart traf ihn die Diskriminierung, als er einen Ausbildungsplatz suchte. „Ich wollte Orthopädietechniker oder Holzspielzeugmacher werden, habe an die 50 Bewerbungen rausgeschickt und nur Absagen bekommen.“ Weil er im Anschreiben den männlichen Namen verwendete, in den Zeugnissen aber die weibliche Form stand, hörte er oft: Wer zu doof sei, seinen eigenen Namen zu schreiben, den wolle man nicht einstellen. Wenn er bis zum Vorstellungsgespräch kam, stieß er durch die Tic-Störung auf Ablehnung oder schaffte die schriftlichen Tests nicht zeitgerecht – wegen der Tics brauchte er länger.

„Einmal wurde mir gesagt, Leute wie mich könnte man nicht mit Menschen arbeiten lassen“, sagt René. „Da musste ich weinen und bin einfach rausgegangen.“ Hinterher schrieb er eine E-Mail an die Verantwortlichen, in der er seine Krankheit erklärte und auch, wie sehr die Aussage ihn getroffen habe. „Danach habe ich mich gleich viel besser gefühlt.“ Eine Antwort kam nie. 

Angekommen im FSJ

Entmutigt bewarb er sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in einem Wohnheim für körperbehinderte Kinder und Jugendliche – und wurde angenommen. Seit vier Monaten arbeitet er dort, 40 Stunden in der Woche. „Die haben sehr viel Verständnis für mich. Wenn ich eine Pause brauche, darf ich sie mir nehmen und den Entspannungsraum nutzen“, sagt René. Tics hat er während der Arbeit kaum, weil er sich wohl fühlt und Körper und Geist beschäftigt sind. „Ich bin jetzt wieder viel zuversichtlicher, dass ich einen Ausbildungsplatz finde“, sagt René. Die ersten Bewerbungen hat er schon verschickt. „Wenn ich mit einer Stelle nur halb so viel Glück hätte wie mit dem FSJ, würde mir das vollkommen reichen.“

(* Name von der Redaktion geändert)

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