„Ich glaube, dass sich die Leute engagieren, weil sie das Festival gernhaben.“
Der Gründer des Haldern Pop Festivals, Stefan Reichmann, spricht darüber, wie es gelingt, dass sich jedes Jahr 450 freiwillige Helfer*innen für das Musik-Festival engagieren.
Vor mehr als 40 Jahren überlegten Messdiener, die Welt der Popmusik in ihr Dorf zu holen. Sie gründeten das Musik-Festival Haldern Pop, das seitdem jährlich stattfindet. Stefan Reichmann ist einer dieser Messdiener. Er ist bis heute künstlerischer Leiter des Festivals. Haldern liegt am Niederrhein und hat etwa 6.000 Einwohner*innen. An den Festivaltagen im August kommen mittlerweile 7.000 Menschen zusätzlich ins Dorf.
Herr Reichmann, Sie haben mal gesagt: Wir machen kein Festival, um Tickets zu verkaufen, wir verkaufen Tickets, um ein Festival zu machen. Ist das der Schlüssel für so viel freiwilliges Engagement?
Das Festival gehört zum Dorf. Jede und jeder Einheimische oder wer eine Beziehung zum Festival hat, konnte und kann sich finanziell mit einer Art „Anteil“ beteiligen. Mitarbeiten und mitgestalten ist die Voraussetzung. Ich glaube, dass sich die Leute für das Festival engagieren, weil sie das Festival gernhaben. Die Zusammenarbeit basiert auf Vertrauen. Wir wollen alle, dass es gut wird, dass die Gäste sich wohlfühlen und dass die Abläufe funktionieren. Wir haben als Veranstalter die Perspektive des Publikums nie verloren. Genauso wichtig für das Dorfleben und die Gemeinschaft ist aber auch: Das Festival ist irgendwann vorbei und tritt in den Hintergrund. Dann geht der Dorfalltag weiter und anderes wird wichtig. Zum Beispiel das Schützenfest oder das Jubiläum der Freiwilligen Feuerwehr. Und die Leute haben erkannt, dass wir nicht mit einer Arroganz auftreten „Wir machen alles besser“. Sondern wir arbeiten zusammen und führen fort: Das Dorf organisiert das Festival. Das Festival sorgt für Lebendigkeit und gibt dem Dorf etwas zurück – wie zum Beispiel die Pop Bar oder das Jugendheim.
Was hat es mit dem Jugendheim auf sich?
Die Kirche wollte das Jugendheim verkaufen und abreißen, obwohl die Substanz völlig in Ordnung war. Der Vertrag für den Abriss lag schon beim Bistum. Ich dachte sofort, das darf nicht passieren. Es ist so ein wichtiger Ort fürs Dorf, dort finden so viele Dinge statt. Wir haben als Dorf entschieden, das Jugendheim selbst zu kaufen und zu erhalten. Ich habe mich kurzerhand in den Pfarrgemeinderat wählen lassen und bin mit dem Pastor nach Münster gefahren, um den Vertrag mit dem Bistum wieder rückgängig zu machen. Dann haben wir eine Veranstaltung in der Kirche organisiert und mit den Menschen darüber diskutiert, was wir mit dem Jugendheim machen können. Daraus hat sich der Verein „heimlich erfolgreich e. V.“ gegründet. Er existiert seitdem blendend. Das Jugendheim ist nicht ruiniert, sondern saniert und bietet Platz für verschiedene Gruppen. Und in manchen Jahren finden dort auch Festival-Konzerte statt.
Sie erwähnten auch die Haldern Pop Bar.
Wir brauchten Büroräume für den professionellen Teil der Festival-Organisation. Die Dorfkneipe „Koopmann“ lag bereits seit neun Jahren still, als wir sie übernahmen. Neben Büroräumen entstanden ein Plattenladen und eine kleine Bühne, wo das ganze Jahr über Konzerte stattfinden. Und die Kneipe bleibt fürs Dorf erhalten. Das war mir sehr wichtig. In der Kneipe können sich weiter alle treffen, etwas trinken und zusammenkommen. Wir haben auch nicht alles neu gemacht. Die alte Kneipe ist noch erkennbar.
Zur Person
Stefan Reichmann ist Gründer und künstlerischer Leiter des Haldern Pop Festivals. Der Niederrheiner betreibt zudem die Agentur Einfach, König & Du – Begeisterungsmanufaktur.
Eine Handvoll Menschen arbeiten hauptamtlich bei der Festival GmbH, dazu kommen 450 freiwillig Engagierte – wie organisieren sie sich?
Wir sind in 18 Familien zu je etwa 30 Leuten organisiert. Das sind keine Herkunftsfamilien. Wir nennen unsere Gruppen so. Die verschiedenen Aufgaben des Festivals sind aber nicht familienspezifisch aufgeteilt. Es macht jede*r da mit, wo es beim Festival am besten passt. In den Familien tauschen sich dann alle über die Aktivitäten aus. Die Familien reden miteinander, fühlen sich füreinander verantwortlich und brechen diesen großen Koloss des Festivals in kleinere Teile runter. Ich wollte für die Organisation des Festivals nie einen Verein haben mit diesen typisch hierarchischen Macht-Strukturen. Ich wollte mehr Selbstorganisation, Augenhöhe und geteilte Verantwortung. Die Familien habe ich auch eingeführt, weil ich diese Tribunale satt hatte: In den ersten Jahren wurde bei Treffen in der Hälfte der Zeit darüber geredet, wer nicht beim Aufräumen war. Natürlich kann man sich darüber ärgern. Aber ich denke immer, das stiftet so viel Unmut und kostet Energie, nichts geht voran. Die Idee mit den Familien braucht Geduld und Zuversicht, mit der Zeit wächst das Vertrauen untereinander, und man wird auch in strapaziösen Momenten belastbarer, geradezu resilient.
Wie findet ihr heraus, wer für welches Engagement der oder die Richtige ist?
Jede*r hat andere Fähigkeiten und Möglichkeiten: Der eine kennt sich mit Musik aus, die andere kann gut organisieren, hat Spaß beim Marketing, kann Traktor fahren oder kennt sehr viele Leute. Jede*r kann etwas beitragen. Und manchmal ist der wichtigste Mensch im Raum derjenige, der zur richtigen Zeit die anderen zum Lachen bringt. Auch wenn es das Einzige ist, was er beiträgt. Wenn der Raum da ist, dass etwas entstehen darf, dann entsteht es auch. Dörfer haben viel Potenzial. Ich glaube, Dörfer können einiges, wenn sie sich öffnen.
Was entsteht, wenn der Raum da ist?
Es gab mal eine Situation, da wollte einer unbedingt zu einem Konzert in die Pop Bar kommen. Es war aber schon längst ausverkauft. Der rief mich an und meinte, er wäre doch Koch und würde gern anbieten, die Band und die Crew den ganzen Tag zu bekochen, wenn er dann abends mit seiner schwangeren Frau zuhören dürfte. Das fand ich eine super Idee. Ich weiß ja, dass alles viel einfacher geht, wenn die Leute zwischendurch was Leckeres zu essen haben. Und ich dachte, das probieren wir mal aus. Wir haben uns kennengelernt, uns direkt gut verstanden, und es hat wunderbar geklappt. Den Koch haben wir dann auch zum Festival geholt, weil wir dachten, es wäre doch super, selbst wieder zu kochen, wie in den ersten Jahren, statt das Catering zu beauftragen. Erst mal haben wir das für die Crew-Versorgung ausprobiert und mittlerweile machen wir auch das Künstler-Catering selbst.
Wie habt ihr das Zusammenarbeiten gelernt?
Viel über die Familien. Die informieren sich das ganze Jahr über, diskutieren und reflektieren die Arbeit. Ich finde es wichtig, dass alle zum Zuge kommen. Und dass die Leute da eingesetzt werden, wo sie gut sind. Sich mit dem einzubringen, was man kann, und als Person wahrgenommen zu werden, das tut gut. Fürs Festival müssen natürlich auch viele Sachen im Kollektiv gemacht werden – wie Zäune aufbauen. Das gemeinsame Arbeiten macht Spaß. Die einen machen mehr, die anderen machen weniger, aber das spielt keine Rolle. Miteinander in Kontakt kommen, zuhören und gegenseitiges Vertrauen entwickeln, das ist ganz wichtig.
Manchmal gibt es auch Streit, da muss sich unsere Energie wieder neu sortieren. Wir sind und bleiben ein naturbelassener Flusslauf, übertreten mal die Ufer, finden aber zurück ins Flussbett. Der Weg ist das Ziel und unser Projekt eine soziale Skulptur, wo jede*r seinen Platz finden soll und deren Festigkeit niemand verschraubt oder verklebt. Sie lebt vom Vertrauen zueinander. Das gilt auch für die Beziehung zu den Künster*innen und unserem Publikum.