Beispiel Hölderlinturm Tübingen – anspruchsvolle Literatur für alle

Friedrich Hölderlins Gedichte gehören sprachlich zu dem Kompliziertesten, was die deutsche Dichtung zu bieten hat. Denn Hölderlin nutzt schwierige und außergewöhnliche Wörter, die er manchmal neu erfindet. Zum Beispiel das Wort „heilignüchtern “ in dem Gedicht „Brod und Wein“. Er benutzt auch griechische Versmaße und missachtet dafür die deutschen Grammatikregeln. Die Sätze, die so entstehen, funktionieren oft nur über Klang und Rhythmus und werden sehr lang, was das Verständnis zusätzlich erschwert. Das Museum Hölderlinturm in Tübingen zeigt jedoch, dass auch schwierige Literatur für alle Menschen zugänglich sein kann.

Neue Wege, Dichtung zu erleben

In der Dauerausstellung des Museums können Besucher*innen die Literatur Hölderlins nicht nur lesen, sondern auch anhören oder fühlen. Wenn sie ihre Hände auf ein Holzbrett legen, vibriert das Brett im Rhythmus des jeweiligen Gedichts. So bekommen alle Menschen, ob mit oder ohne Hörbehinderung, Lesefähigkeiten oder Deutschkenntnissen, ein ganz neues Gefühl für Hölderlins Texte. Im Sprachlabor können die Besucher*innen die Sprache Hölderlins sogar selbst ausprobieren, indem sie mit seinen Silben, Versen und Rhythmen experimentieren.

In einem Computerspiel springen die Besucher*innen mit ihrer Spielfigur über die betonten Silben in Hölderlins Gedichten. Auf einem Soundboard können sie verschiedene eingesprochene Verse Hölderlins miteinander kombinieren. Ein weiteres Spiel besteht darin, Hölderlins Gedichte nach Anzahl ihrer Silben, Vokale oder Konsonanten zu ordnen.

Die Mitarbeiter*innen des Museums suchen immer wieder neue Wege, mit der Literatur Hölderlins umzugehen. Denn Dichtung ist nicht nur mit dem Sehsinn wahrnehmbar. Auch mit vielen anderen Sinnen kann man sie spüren. Das Museum will so versuchen, allen Menschen ein schönes Museumserlebnis zu ermöglichen. Dieses Ziel verfolgte es auch mit der letzten Sonderausstellung „Hölderlin liebt...“ , die komplett in Einfacher Sprache und in Gebärdensprache angelegt wurde und zudem digital verfügbar war.

Das Gebäude Museum Hölderlinturm von außen, nahe am Wasser gelegen

Online-Ausstellungen sind für viele Menschen praktisch

Mit der Online-Ausstellung wollte das Museum vor allem Menschen mit Mobilitätseinschränkung erreichen. Sie können den Hölderlinturm nämlich nicht besuchen, weil er nur über eine lange steile Treppe erreichbar ist. Der Denkmalschutz und hohe Kosten verhindern es bislang, einen Aufzug oder Treppenlift einzubauen. Da keine bauliche Barrierefreiheit herrscht, ist es dem Museum wichtig, andere Besuchsformen anzubieten. Durch den digitalen Zugang konnten Menschen mit Mobilitätseinschränkungen Hölderlins Gedichte und Geschichte trotzdem erleben. Der Online-Besuch war auch praktisch für viele weitere Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht zur Ausstellung ins Museum kommen konnten oder wollten. Denn eine lange und anstrengende Anreise, die Sorge um Corona, Angst vor großen offenen Räumen oder vielen fremden Menschen können genauso große Barrieren sein.

Geringe finanzielle Barrieren

Auch finanzielle Barrieren hält das Museum niedrig: Der Eintritt ist gratis, Führungen kosten zwischen 5 und 7 Euro und finden in Schwerer und Einfacher Sprache statt. Menschen mit wenig Geld können die Führung über die Tübinger Kreis-Bonus-Karte noch günstiger besuchen. Aber das ist gar nicht immer nötig. Denn der Media-Guide des Museums ist ebenso komplett kostenlos nutzbar und enthält viele tolle Angebote, unter denen garantiert für jede*n etwas dabei ist: Touren auf Englisch, Französisch, in Leichter Sprache und in Gebärdensprache sowie eine Hörtour für Menschen mit Seheinschränkungen.

Zeichnung von 1792 von Friedrich Hoelderlin
Logo der Sonderausstellung Hölderlin liebt...

Gedichte sehen, riechen, fühlen

Für die Sonderausstellung „Hölderlin liebt...“ fand das Museum noch mehr Wege, Hölderlins Gedichte niederschwellig erlebbar zu machen. Beim Magnet-Puzzle konnten die Besucher*innen zuerst das Gedicht „Hälfte des Lebens“ lesen. Danach ordneten sie verschiedene Bilder so auf dem Puzzle-Brett an, wie sie es sich beim Lesen des Gedichts vorgestellt hatten. Die Besucher*innen platzieren zum Beispiel Bilder von Birnen, Rosen, Schwänen oder einem See. An der Duftstation konnten sie die Birnen, Rosen und Zitronen, die Hölderlin in seinen Gedichten beschreibt, dann riechen. Im Bällebad durften sie nach ihrem Hölderlin-Lieblingswort angeln. Zur Auswahl standen die Wörter heilig, still, süß, Gott, Herz und Mensch. Alle Besucher*innen warfen den Ball mit ihrem Lieblingswort in eine dazu gehörige Plexiglas-Röhre und stimmten so darüber ab, welches Wort am Tag des Besuchs das beliebteste war. Darüber konnten sie dann mit ihrer Familie, ihren Freunden und anderen Besucher*innen reden.  

Barrierefreiheit ist gut für alle Menschen

Das Leben von Hölderlin ist spannend und seine Gedichte sind etwas Besonderes. Das möchte das Museum Hölderlinturm mit seinen barrierefreien Ausstellungen möglichst vielen Menschen zeigen und ihnen Angst vor der schwierigen Sprache nehmen. Es möchte offen für jede*n sein und so zu einem Familienmuseum werden, in dem der Opa, der nicht gut sehen kann, genauso eine schöne Zeit verbringt wie seine zwölfjährige Enkelin, die Einfache Sprache nutzt. Blinde Menschen sollen das Museum mit sehenden Menschen besuchen können, Menschen mit Lernschwierigkeiten genauso wie Menschen, die nur wenig Geld haben.

Die Barrierefreiheit im Hölderlinturm ermöglicht es allen Besucher*innen zusammenzukommen, sich mit anderen über Hölderlin auszutauschen und ein Gruppenerlebnis mit viel Spaß zu haben, ganz egal, was ihre individuellen Voraussetzungen oder Fähigkeiten sind. Bei dem Erlebnis in der Gruppe lernen sie ganz automatisch und spielerisch. Denn gemeinsam fällt Lernen den meisten Menschen leichter.

Kinder oder Jugendliche, die in der Schule keine Lust haben, sich mit Hölderlin zu beschäftigen, finden ihn im Museum viel interessanter und beschäftigen sich gerne mit ihm. Menschen, die noch nicht so gut Deutsch sprechen, können die Sprache im Hölderlinturm mit allen Sinnen lernen und nicht „nur“ hörend und sprechend wie in einem Deutschkurs. Sie können auch mit Muttersprachler*innen im Museum reden und neue Wörter direkt ausprobieren. Zusammen zu lernen ist außerdem nachhaltiger: Das Gelernte wird besser erinnert und nicht so schnell wieder vergessen.

Museen verbessern ihr Image durch Barrierefreiheit

Von der Barrierefreiheit profitiert auch das Museum selbst. Als städtisches Museum hat der Hölderlinturm zwar einen festen Etat im Haushalt der Stadt Tübingen, sodass er nicht um seine Existenz fürchten muss. Die Sonderausstellung „Hölderlin liebt...“ wurde wegen ihres inklusiven Charakters jedoch auch anderweitig finanziell unterstützt. Förderungen kamen vom Programm Impulse Inklusion des Sozialministeriums Baden-Württemberg, dem Begleitprogramm der Arbeitsstelle für literarische Museen in Baden-Württemberg und über die Stiftung Pro Kommunikation.

Je größer die finanziellen Möglichkeiten eines Museums sind, desto besser kann es eine abwechslungsreiche Ausstellung organisieren, die alle Menschen anspricht und an der jede*r Freude hat. So kann es auch dem derzeitigen Ruf von Museen generell entgegenwirken: Viele Menschen glauben, ein Museumsbesuch sei langweilig und vor allem für ältere Bürger*innen gedacht. Das Museum Hölderlinturm beweist das Gegenteil – es schlägt verschiedenste Wege ein, um allen Menschen einen spielerischen Zugang zu vermeintlich „verstaubter“ Dichtung zu ermöglichen.

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