"Alle Menschen entwickeln neue Kompetenzen"

Von Empowerment-Prozessen profitieren alle, die daran teilnehmen: Menschen in schwierigen Lebenslagen, Profis und Entscheider*innen. Die Empowerment- und Partizipations-Expertin Annika Frahsa beschreibt, wieso. 

 

Warum ist Empowerment für alle Menschen wichtig, egal in welcher Lebenslage?

Empowerment bedeutet zunächst einmal, dass Menschen Fähigkeiten entwickeln oder erkennen, dass sie sie haben. Es geht darum, dass sie ihre soziale Lebenswelt und ihr Leben insgesamt selbst gestalten – dass sie es nicht von anderen Menschen gestalten lassen. Akteure des eigenen Lebens zu werden – das betrifft ja alle Menschen. Empowerment lässt sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen betrachten: Es geht zum einen um Selbst-Empowerment, um die individuelle Ebene für jede einzelne Person. Es geht aber auch um eine gemeinschaftliche Ebene von Empowerment: wie wir als Gruppe Prozesse in Gang setzen, die es uns und anderen aus unserer Gruppe erlauben, unser Lebensumfeld aktiv zu gestalten. Sei es in Selbsthilfegruppen, über ehrenamtliches Engagement oder als Community – also als Gruppe, die in einem bestimmten geografischen Raum oder in einer Einrichtung zusammenlebt. Drittens geht es auf der politischen Ebene bei Empowerment darum, politische Prozesse und Entscheidungen vor Ort aktiv mitzugestalten. Diese Ebene sollte immer mitgedacht werden.

Inwieweit müssen dann Menschen noch empowert werden, die bereits viel entscheiden und gestalten können?

Das ist eine der Herausforderungen von Empowerment: Menschen in privilegierter Lebenslage zu befähigen, über ihre Position nachzudenken. Das Empowerment einer Gruppe ist oft verbunden mit Verschiebungen in den Machtverhältnissen. Bei Empowerment-Prozessen kann es darum gehen, Macht abzugeben. Das kann gut laufen, das kann aber auch ein herausfordernder und schmerzhafter Prozess sein.

Warum sollten Entscheiderinnen, Entscheider und Fachleute sich denn auf solch einen herausfordernden Prozess einlassen? Was haben sie davon?

Sie können dadurch Fähigkeiten gewinnen, die in Gesellschaft und Arbeitswelt eine immer wichtigere Rolle spielen: beispielsweise eine konstruktivere Arbeitsweise lernen, die sich an den Ressourcen der Menschen orientiert und nicht an ihren Defiziten. Darüber hinaus entwickeln alle Menschen, die an Empowerment-Prozessen teilnehmen, mehr Handlungsmöglichkeiten und neue Kompetenzen – auch professionelle Akteure, Entscheiderinnen und Entscheider profitieren davon.

Welche Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen sind das?

Ich habe meine Doktorarbeit vor einigen Jahren genau zu dieser Frage geschrieben: Was bewirken partizipative Forschungsprojekte und Empowerment-Ansätze mit Frauen in schwierigen Lebenslagen bei den professionellen Akteuren und politischen Entscheidungsträgerinnen? Das war im Rahmen des Projekts „Bewegung als Investition in Gesundheit“ in Erlangen, kurz: BIG. Was spannend war: Es war gar keine große Herausforderung, Lokalpolitikerinnen, Sozialarbeiter und Vertreterinnen von Sportvereinen zu überzeugen mitzumachen. Alle hatten erkannt: Es gibt bestimmte Personengruppen vor Ort, die sich weniger bewegen. Die sehr von Bewegung profitieren würden, im Hinblick auf ihre Gesundheit, auch mit Blick auf Teilhabe und Inklusion. Alle waren begeistert dabei, das Richtige und Gute für die Frauen und mit den Frauen zu machen. Ihr Motto zu Beginn war: Wir bringen unsere fachliche Expertise und unsere politische Gestaltungsfähigkeit in den Prozess ein. Was die Profis nicht vorhergesehen haben, sind die persönlichen Veränderungen, die das bei ihnen auslösen würde.

Haben Sie ein Beispiel für diese persönlichen Veränderungen? 

Sie haben zum Beispiel ein größeres Bewusstsein für Diversität und einen differenzierteren Blick auf die Frauen entwickelt. Zu Beginn hieß die Gruppe der Frauen bei den Profis einfach: die Frauen in schwierigen Lebenslagen oder: die sozial Benachteiligten. Im Laufe des Prozesses entwickelte sich das Bewusstsein dafür, dass es Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Bedarfen sind, die auch differenziert behandelt werden sollten. Es waren alleinerziehende Frauen, es waren Frauen, die Hartz-IV-Leistungen empfingen, oder Frauen, die gerade erst zugewandert waren. Ähnliche Erfahrungen habe ich in einer Studie in der Schweiz gemacht, der MIWOCA-Studie. Da geht es um den Zugang zum Gesundheitssystem und die Qualität der Versorgung für chronisch kranke Frauen mit Migrationshintergrund. 

 

Porträt Annika Frahsa
Annika Frahsa ist Professorin für Sozialräumliche Gesundheitssystemforschung an der Universität Bern. (Foto: Andreas Riedel) 
Frauen und Männer sitzen an einem Tisch und arbeiten zusammen

Was haben die Profis von den Frauen gelernt? 

Fachleute, Politikerinnen und Entscheiderinnen lernen in Empowerment-Prozessen, dass die anderen eben nicht Klienten oder Bedürftige sind, die betreut und versorgt werden müssen. Sie erkennen, dass die Menschen eigene Ressourcen einbringen können. Ganz praktisches Beispiel aus dem BIG-Projekt: Die Teilnehmerinnen machen zu Beginn des Partizipationsprozesses der kooperativen Planung immer eine sogenannte Aktivposten-Analyse: Sie nennen Ressourcen, die aus ihrer Sicht den Prozess unterstützen können. Die Frauen nannten dabei 20 bis 30 andere Frauen. Sie konnten Kontakte zu der Community mit in den Prozess einbringen. Die Frauen kennen alle Räume für Veranstaltungen vor Ort, können das Catering übernehmen, sind im Elternbeirat der Schule oder der Kindertagesstätte. Das war auch ein Lernprozess für die Fachleute.

Gibt es weitere Erkenntnisse und Fähigkeiten, die die Fachleute und Entscheiderinnen aus dem Prozess mitgenommen haben?

Sie haben neue fachliche Kompetenzen entwickelt: Die Akteurinnen und Akteure aus dem Sportbereich haben gelernt, wie sie im Bereich Gesundheitsförderung tätig werden. Die Profis aus dem Sozialwesen haben gelernt, den Bereich Gesundheit mitzudenken. Außerdem haben sich strukturelle Veränderungen ergeben: Das Sportamt in Erlangen ist nun das Amt für Sport und Gesundheitsförderung. Es hat sich wegbewegt vom engen Sportbegriff hin zu einem breiten Bewegungsbegriff. Das Amt hat nun alle Bürgerinnen und Bürger der Kommune im Blick mit ihren unterschiedlichen Interessen an Sport und Bewegung.

Empowerment-Prozesse lohnen sich also für alle gesellschaftlichen Gruppen. Nur ist die Herangehensweise an die verschiedenen Gruppen vermutlich jeweils etwas anders?

Ja. Bei Menschen in schwierigen Lebenslagen kann es tatsächlich sinnvoll sein, sie in einem geschützten Raum mit Fragen und Prozessen vertraut zu machen und sie so in einem ersten Schritt zu befähigen. Bei Menschen wiederum, die erstmal denken, sie würden Empowerment nicht brauchen, ist die Frage, ob sie Seminare oder Trainings überhaupt annehmen. Da kann es besser sein, mit ihnen gemeinsam an einem Projekt, einer konkreten Herausforderung zu arbeiten. Sie können im praktischen Tun die Erfahrung machen, sich selber zu reflektieren und neue Kompetenzen zu erwerben. Sensibilität und Offenheit gegenüber anderen Akteurinnen und Akteuren lassen sich auf diese Weise leichter entwickeln.

 

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