Community Organizing im Kölner Norden

Bürgerplattform STARK! – soziale Gemeinschaften gestalten ihre Stadt

Im Kölner Norden gründete sich 2015 die Bürgerplattform STARK! mit dem Ziel, das Leben für alle Menschen besser zu machen. Mit dabei waren Kirchengemeinden, Moscheen, afrikanische Kulturvereine, Vereine, in denen sich Jugendliche oder Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte engagieren. Viele Stadtteile im Kölner Norden werden gemeinhin als „sozial benachteiligt“ bezeichnet. In den Stadtbezirken Ehrenfeld, Chorweiler und Nippes waren 2013 viele Menschen arbeitslos, und es beteiligen sich viel weniger Menschen an Wahlen als in anderen Stadtteilen.

Community Organizer Tobias Meier hat die STARK!-Gründung begleitet. Zuvor hatte er Erfahrungen bei Bürgerplattformen in Berlin gesammelt und sich beim Deutschen Institut für Community Organizing (DICO) in Seminaren weitergebildet. Das Anliegen der DICO-Akteur*innen war, auch außerhalb von Berlin Menschen dabei zu unterstützen, sich in Bürgerplattformen zu organisieren.

Unternehmen, Institutionen und Stiftungen finanzieren die Gründung

Sie hörten sich in verschiedenen Städten in NRW um, sprachen mit Vertreter*innen der lokalen Wirtschaft und verschiedener Institutionen. „Am Anfang einer Bürgerplattform steht die finanzielle Unterstützung durch Unternehmen, Institutionen oder Stiftungen vor Ort“, sagt Meier. Ziel ist, dass sie den Gründungsprozess in den ersten drei Jahren finanzieren – vor allem die Stelle eines oder einer hauptamtlichen Community Organizer*in.

„Im Prinzip ist es ein Aufeinanderzugehen“, erklärt Meier. „Wir hören uns um und überlegen, wo Community Organizing sinnvoll wäre. Gleichzeitig wird ans DICO immer wieder das Interesse herangetragen, etwas in Stadt X zu machen. Meist sind ein oder zwei Multiplikatoren die Treiber vor Ort.“ In Köln waren das unter anderem der Stiftungsfonds des Versicherungsanbieters Generali und das katholische Stadtdekanat.

Über die Jahre traten dem sogenannten Unterstützerkreis außerdem bei: die Rewe Group – Region West, das Automobilunternehmen Ford, das Logistikunternehmen UPS Deutschland, das Entsorgungsunternehmen Remondis, das Wohnungsbauunternehmen GAG Immobilien, die Sparkasse Köln-Bonn und die Industrie- und Handelskammer zu Köln. „Die meisten dieser Unterstützerinnen und Unterstützer haben ihren Standort im Kölner Norden“, erklärt Meier. „Oder sie sind generell daran interessiert, dass die Stadtteile sich weiter entwickeln und die Menschen dort ein besseres Leben haben.“

Luftaufnahme von Köln Chorweiler

Blick auf den Kölner Stadtbezirk Chorweiler

© Superbass / CC-BY-SA-4.0 (via Wikimedia Commons)
 

Gespräche mit mehr als 1.000 Schlüsselpersonen

Vom Frühjahr 2013 bis Herbst 2015 führte Community Organizer Meier mehr als 1.000 Einzelgespräche mit Schlüsselpersonen aus den Stadtvierteln. Schlüsselpersonen sind Menschen, die in ihrer sozialen Gemeinschaft (Community) gut vernetzt sind. „Das müssen nicht immer Menschen mit einem wichtigen Amt sein“, sagt Meier. „Es kann auch der Hausmeister oder die Hausmeisterin einer Kirchengemeinde sein oder das engagierte Ehepaar in einem Sportverein.“

Meier redete mit Menschen aus katholischen, evangelischen, orthodoxen und islamischen Gemeinden, aus Sport-, Kultur- und Nachbarschaftsvereinen, Bürgerinitiativen, Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften. Er fragte die Menschen, wie es ihnen geht, was sie bewegt, was sie frustriert. Er wollte wissen, was sie gern ändern würden in ihrer Nachbarschaft und ob sie bereit wären, sich dafür gemeinsam mit Menschen aus anderen Gruppen zu engagieren. Er fragte sie auch nach weiteren Schlüsselpersonen, die er ansprechen könnte. Wer bereit war, sich bei einer Bürgerplattform zu engagieren und selbst neue Mitstreiter*innen zu gewinnen, konnte an Schulungen des DICO teilnehmen.

Die engagierten Schlüsselpersonen fanden sich zum sogenannten Aufbaukreis zusammen. Dort lernten die Menschen aus den verschiedenen sozialen Gemeinschaften einander besser kennen, bauten Vertrauen auf und sprachen über ihre Wünsche und Themen, die ihnen wichtig sind. Der Aufbaukreis wurde nach und nach immer größer.

Das Motto: Beziehungen vor Themen

„Ziel beim Community Organizing ist, dass sich Menschen aus vielen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft engagieren. Der Aufbaukreis soll stark genug werden, um stadtpolitische Themen zu bewegen, Missstände zu ändern und mit Entscheiderinnen und Entscheidern auf Augenhöhe zu verhandeln“, erklärt Meier. Sobald das soweit ist, beschließen die Mitglieder, eine Bürgerplattform zu gründen. Mit der Gründung erklären die Gruppen sich bereit, zwischen 25 und 40 Prozent des Jahresbudgets der Bürgerplattform zu finanzieren. Den Rest zahlen die Unternehmen aus dem Unterstützerkreis.

Erst kurz vor der offiziellen Gründung sprechen die Schlüsselpersonen aus dem Aufbaukreis erstmals über konkrete Themen und recherchieren Lösungsvorschläge. Vorher geht es vor allem darum, Beziehungen aufzubauen. Das Motto beim Community Organizing lautet: „Beziehungen vor Themen“. Bei der Suche nach Themen sprechen die Schlüsselpersonen über Erfahrungen aus ihrem Alltag und erkennen oft, dass sie damit nicht alleine sind. Aus allen Geschichten wählen die Aktiven die dringendsten Themen aus. Die Herausforderung dabei: Menschen aus den vielen verschiedenen sozialen Gemeinschaften müssen sich auf gemeinsame Themen einigen.

800 Menschen auf der Gründungsveranstaltung

In Köln waren das unter anderem „Wohnen“ und „Spielplätze“: In einer Wohnsiedlung im Viertel Roggendorf/Thenhoven waren viele Gebäude in einem schlechten Zustand. In zwei anderen Stadtvierteln sollten Spielplätze erneuert werden.

Im Oktober 2015, nach zweieinhalb Jahren Aufbauprozess, stellten sich fast 30 Gruppen offiziell als neue Bürgerplattform STARK! für den Kölner Norden vor. 800 Menschen kamen zur Gründungsveranstaltung. Zu der Veranstaltung hatte der Aufbaukreis unter anderem die Unternehmen aus dem Unterstützerkreis und Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung eingeladen. Die Aktiven präsentierten ihre Themen und Lösungsvorschläge.

In dieser Phase des Community Organizing nehmen die Aktiven Kontakt zu Entscheidungsträger*innen auf, die ihre Probleme lösen können: Das können Führungskräfte aus Unternehmen, Kommunal- und Landespolitiker*innen oder Vertreter*innen von Schulen oder Hochschulen sein. Dann verhandeln Aktive und Entscheider*innen, was in welcher Zeit möglich ist. „Bei Stillstand wird der Druck erhöht, um Bewegung in die Verhandlung zu bekommen, beispielsweise durch Protestaktionen“, sagt Meier.

Immer wieder neue Menschen einbeziehen

Die ersten Kampagnen schloss STARK! im Herbst 2017 erfolgreich ab: Das zuständige Wohnungsbauunternehmen ließ Gebäude in der Wohnsiedlung sanieren, auch Bewohner*innen halfen mit. Für die Spielplätze wurden neue Geräte gekauft.

Wenn eine Bürgerplattform ihre Projekte erfolgreich beendet hat, treffen sich die Aktiven zur neuen Runde: Die Mitglieder sammeln weitere Geschichten aus dem Alltag der Menschen, finden neue Themen, die sie angehen wollen. STARK! im Kölner Norden engagiert sich 2021 beispielsweise gegen Rassismus und Diskriminierung im Alltag. Außerdem organisiert die Bürgerplattform Aktionen, die Menschen zum Wählen motivieren sollen.

Für neue Themen und Kampagnen spricht Community Organizer Tobias Meier jedes Mal wieder Menschen in den Stadtvierteln an, baut neue Beziehungen auf. „Beim Community Organizing ist es sehr wichtig, immer wieder neue Menschen kennenzulernen und einzubeziehen“, sagt Meier. „Allein schon, weil auch die sozialen Gemeinschaften sich verändern. Menschen ziehen weg, neue Schlüsselpersonen kommen dazu. Darauf muss eine Bürgerplattform reagieren, um nicht auszutrocknen.“

Nachgefragt bei Tobias Meier, Community Organizer in Nordrhein-Westfalen und Geschäftsführer der DICO gGmbH

In welchen Fällen ist Community Organizing der richtige Weg für Menschen, die mitentscheiden und das Leben in ihrer Kommune für alle besser machen wollen?

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Gründung einer unabhängigen Bürgerplattform in einer Kommune oder einem Stadtbezirk ab einer Einwohnerzahl von 200.000 gut funktioniert. Denn Bürgerplattformen brauchen eine Vielfalt an sozialen Gemeinschaften, die es in kleineren Städten nicht immer gibt. Außerdem ist eine Bürgerplattform dann sinnvoll, wenn es in der Stadt oder dem Stadtviertel keine ernst gemeinten Partizipationsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger gibt. Zum Beispiel, wenn die Stadt zwar pro forma Beteiligungsformate anbietet, auf die Wünsche und Forderungen der Menschen aber nicht wirklich eingeht. Die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern in kommunalen Gremien hat ja auch immer einen Haken: Für die Gremien müssen Sie ja irgendwie auswählen. Beispielsweise zehn Leute, die als Vertreterinnen und Vertreter für die Zivilgesellschaft eingeladen werden. Es ist schwer, die Vielfalt einer Großstadt in solchen Gremien abzubilden. In einer gut funktionierenden Bürgerplattform können sich Vertreterinnen und Vertreter vieler verschiedener Gruppen viel besser einbringen und sich für ihre Themen einsetzen.

Vertreterinnen und Vertreter aus Stadtverwaltung und -politik werden bewusst nicht am Aufbau einer Bürgerplattform beteiligt. Die Aktiven nehmen erst dann mit ihnen Kontakt auf, wenn es darum geht, Lösungen zu finden und umzusetzen. Warum ist diese Unabhängigkeit wichtig?

Ziel beim Community Organizing ist, dass Menschen aus vielen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft mit Entscheiderinnen und Entscheidern auf Augenhöhe verhandeln. Damit das gut funktioniert, müssen sich die Menschen aus den verschiedenen sozialen Gemeinschaften erst einmal besser kennenlernen. Sie sollen gemeinsame Wünsche und Themen sowie mögliche Lösungen herausfinden. Außerdem sollen sie verstehen, wie bestimmte Prozesse in einer Kommune funktionieren – und dann mit einer geeinten Stimme an Verwaltung und Politik herantreten. Wären Verwaltung und Politik am Aufbau der Plattform beteiligt, bestünde die Gefahr, dass sie versuchen, ihre Interessen durchzusetzen.

Ist eine Bürgerplattform denn auch unabhängig von den Unternehmen im Unterstützerkreis?

Es sollten immer mehrere Unternehmen eine Bürgerplattform finanziell unterstützen. Das garantiert die Unabhängigkeit. Wenn eine Bürgerplattform zum Beispiel gegen ein Wohnungsunternehmen eine Kampagne fährt und das Unternehmen sagt: Ja gut, dann geben wir euch kein Geld mehr, bekommt die Plattform trotzdem weiter Unterstützung. Meine bisherige Erfahrung ist: Die Unternehmen aus dem Unterstützerkreis arbeiten konstruktiv mit der Plattform zusammen. Sie vermitteln beispielsweise Kontakte. In Köln bieten die Ford-Werke und UPS Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zudem die Möglichkeit, ein bis zwei Tage im Jahr für soziales Engagement frei zu nehmen. Das haben wir genutzt, um mit einem Team aus beiden Unternehmen die STARK!-Gründungsveranstaltung vorzubereiten. Für unsere Kampagnen gehen wir immer wieder neue Partnerschaften ein: mit Unternehmen, Institutionen, der Stadtverwaltung. Wir kommunizieren jedes Mal: Auch wenn wir jetzt bei diesem Thema zusammenarbeiten – es kann trotzdem passieren, dass wir bei einem anderen Thema gegen euch verhandeln. Beim Community Organizing gilt der schöne Grundsatz: keine dauerhaften Verbündeten, keine dauerhaften Gegner. Je nach Thema können sich die Koalitionen komplett ändern.

Eine Bürgerplattform organisiert auch Protestaktionen. Wann ist das nötig?

Verhandlungen sind nicht immer einfach. Es muss unter Umständen öffentlicher Druck erzeugt werden, damit Dinge in Bewegung kommen. Eines der ersten Themen der Bürgerplattform in Berlin Wedding/Moabit beispielsweise war die Situation im Jobcenter: schlechte Beratung, Stellen nicht besetzt, keine telefonische Auskunft, Warteschlangen vor der Tür bei Wind und Wetter. Allein die Recherche der Entscheidungsträger dauerte Monate. Als der Geschäftsführer endlich gesprächsbereit war, führte das noch zu keinen Zugeständnissen. Dann versammelten sich über 400 Menschen zu einer öffentlichen Aktion und der Geschäftsführer wurde auf einer Bühne dazu befragt. Im Anschluss wurden die ersten Verbesserungsvorschläge umgesetzt. Heute sind die Stellen besetzt, die Telefonberatung ist auskunftsfähig und der Wartebereich ist umgestaltet.

Der Interviewpartner Tobias Meier aus Köln im Porträt
Junger Mann sitzt in einem Mini-Tracktor

2. Phase: Umsetzung

Sie haben Ihr Projekt gründlich geplant und wollen nun in die Praxis starten. Lesen Sie in der 2. Phase: Umsetzung, was dabei wichtig ist.
Damit aus Ideen Wirklichkeit wird.