Kommune Inklusiv, das Modellprojekt zieht Bilanz: Plenum 01.03.2018

Vor einem Jahr startete die Aktion Mensch das Projekt "Kommune Inklusiv" mit fünf unterschiedlichen Sozialräumen in ganz Deutschland. Das Plenum des zweiten Tages stand ganz im Zeichen einer ersten Bilanz dieses Langzeitprojektes.

Grafik zu Kommunen werden inklusiv

Podium mit Vertretern aus den Modellkommunen „Blick zurück nach vorn: 5 Kommunen, 5 Jahre, 5 Macher – eine erste Bilanz nach einem Jahr Kommune Inklusiv“

Kommune Inklusiv – Das Modellprojekt

Auf der Bühne: Die Moderatorin Katja Nellissen mit Johannes Blaurock, Elisabeth Paulus, Gracia Schade, Gerhard Suder, Steffen Bockhahn und Christina Marx. Eine große Leinwand überträgt alles im Hintergrund. Eine Gebärdensprachdolmetscherin übersetzt

Die Aktion Mensch hat 2017 das Projekt Kommune Inklusiv gestartet. Ziel ist es, Inklusion dort voranzutreiben, wo es die meisten Menschen unmittelbar spüren, nämlich in ihrem direkten Lebensumfeld. In den Kommunen sollen Verwaltung, Wirtschaft und die Bürger vor Ort fünf Jahre gemeinsam daran arbeiten, dass alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Aus rund 130 Bewerbungen hat die Aktion Mensch fünf Modellkommunen ausgewählt: Rostock, Schneverdingen, Nieder-Olm, Schwäbisch Gmünd und Erlangen. Jede der fünf Modellkommunen unterscheidet sich wesentlich von den anderen. Auch die Schwerpunkte der einzelnen Kommunen sind unterschiedlich. So entstehen fünf verschiedene Wege, wie man mehr Inklusion vor Ort umsetzen kann.

In den fünf Jahren begleitet und unterstützt die Aktion Mensch die Kommunen. So können die Kommunen eine finanzielle Förderung von bis zu 600.000 Euro erhalten. Zudem steht die Aktion Mensch den Kommunen jederzeit bei Fragen und Problemen zur Seite. Es gibt ein umfangreiches Schulungsprogramm und eine wissenschaftliche Begleitung. Die wissenschaftliche Begleitung legt immer wieder Zwischenberichte zu den Maßnahmen und Fortschritten vor. So können die Kommunen und die Aktion Mensch sehen, was gut läuft und wo man eventuell nachbessern muss. Und so können auch andere Gemeinden aus den Erfahrungen der fünf Modellkommunen lernen.

Mehr über das Projekt erfahren

Die Erfahrungen aus einem Jahr Kommune Inklusiv

Steffen Bockhahn, Senator für Jugend, Soziales, Gesundheit, Schule und Sport, Rostock

Großaufnahme von Gerhard Suder, Steffen Bockhahn –der spricht – und Christina Marx

Vor der Bewerbung für das Projekt Kommune Inklusiv fühlte Steffen Bockhahn bei den Beteiligten in Rostock vor. Dabei kam heraus: Viele waren dafür, keiner dagegen. Dieser Rückhalt aus der Kommune bestärkte ihn, die Bewerbung einzureichen. Die erste Hürde hat die Modellkommune somit erfolgreich bewältigt. „Nun ist die Schwierigkeit für uns, alle zusammenzuhalten, die anfangs dafür waren“, so Bockhahn.

In Rostock gibt es viele verschiedene Sozialräume, und die Einwohner sind weit verteilt. „Unter den Stadtteilen finden sich auch einige, die abgehängt sind“, erklärte Bockhahn. Als Modellprojekt soll nicht die ganze Stadt dienen, sondern zunächst nur Rostock-Süd. „In den Begegnungszentren in Rostock-Süd wollen wir gezielt Inklusion für alle voranbringen“, berichtete Bockhahn. So sollen Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund, ältere oder arme Bürger am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Anschließend sollen die gesammelten Erfahrungen dazu dienen, die Fortschritte auf alle Stadtteile auszuweiten. „Dabei wollen wir uns Beispiele für gelungene Inklusion in Schulen, bei Arbeitgebern oder in Kindergärten auch abgucken“, so Bockhahn weiter. „Denn wir brauchen das Rad nicht neu zu erfinden, sondern können uns auch auf die Erfahrungen von gelungenen Projekten stützen.“

Eine Schule in Rostock zeigt auch, wie umgekehrte Inklusion funktionieren kann. „Früher war diese Schule eine Förderschule für Menschen mit Behinderung“, berichtete Bockhahn. „Jetzt ist die Schule auch für Menschen ohne Förderbedarf geöffnet. Und es funktioniert so gut, dass ich am liebsten alle Schulen dafür gewinnen würde.“ Bockhahn ist überzeugt davon, dass von einer inklusiven Gesellschaft alle Menschen profitieren.

Johannes Blaurock, Teil der Verbundleitung „Wohnen“ der Stiftung Haus Lindenhof, Schwäbisch Gmünd

Johannes Blaurock arbeitet für eine Stiftung in der Modellkommune Schwäbisch Gmünd. Das Sozialunternehmen unterstützt Senioren, Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung, damit sie so selbstständig wie möglich leben können. Blaurock konnte somit aus der Sichtweise der Verbände berichten. „Wichtig ist, dass man Menschen mit Behinderung in die Entscheidungen miteinbezieht. Nur wenn diejenigen, um die es geht, sichtbar sind und Veränderungen aktiv mitgestalten, kann man etwas bewegen“, so Blaurock.

Der Inklusionsbeirat wird in Schwäbisch Gmünd vom Bürgermeister geleitet. „Das ist wichtig!“, betonte Blaurock. „Nur wenn Inklusion zur Chefsache gemacht wird und alle Bürger beteiligt sind, kann man gute Lösungen für alle finden.“

Stellvertretend für ein großes Netz aus Verbänden, Verwaltung, Institutionen und Vereinen hat sich die Stadt Schwäbisch Gmünd erfolgreich für Kommune Inklusiv beworben. Es gibt auch dort schon gute Beispiele für Inklusion: „Menschen mit geistiger Behinderung und Fachkräfte bilden zum Beispiel Tandems, damit Inklusion auch in der Schule gelingen kann. VHS-Kurse werden auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Flüchtlinge angeboten“, zählte Blaurock zwei Beispiele auf. Im Inklusionsbeirat werden nun in den nächsten Jahren nicht nur die Möglichkeiten besprochen, wie man mehr Inklusion erreichen kann, sie werden auch umgesetzt. Ziel ist es, das Leben in Schwäbisch Gmünd für alle Bürger besser zu machen.

Gracia Schade, Vorsitzende des Inklusionsbeirats, Nieder-Olm

„Wir müssen ganz konkrete Fragen an Menschen mit Behinderung stellen“, betonte Gracia Schade. „Nur so können wir Hilfen anbieten, die auch gebraucht werden. Mehr Angebote in Leichter Sprache zum Beispiel.“

Gracia Schade ist Netzwerkkoordinatorin des Projekts Kommune Inklusiv für Nieder-Olm. Die Verbandsgemeinde ist sehr ländlich geprägt und besteht aus vielen einzelnen Ortschaften. „Jede Ortschaft hat einen Bürgermeister oder eine Bürgermeisterin, die andere Vorstellungen haben“, so Schade. Dadurch muss sie viel Überzeugungsarbeit leisten. „Damit es vorangeht, muss man die Beteiligten auch einmal piesacken und darf nicht nachlassen“, berichtete Schade. Einen normalen Arbeitstag als Netzwerkkoordinatorin hat sie deswegen bisher noch nicht erlebt. Doch nach vielen Einzelgesprächen haben sich für bestimmte Ortschaften bereits bestimmte Schwerpunkte herauskristallisiert.

Wie in den anderen Modellkommunen sind auch in Nieder-Olm Bürgerbeteiligung und Inklusion aller Menschen die Ziele. „Hier wohnen viele ältere Menschen, Geflüchtete und Menschen mit Behinderung. Die Bedarfe dieser Menschen sind nicht so unterschiedlich. Wenn wir es schaffen, den Bedarf all dieser Menschen zusammenzuführen, kann sich auch in kleinen Gemeinden etwas ändern“, ist Schade überzeugt. Um dieses Ziel zu erreichen, muss man gute und starke Partner finden, die ehrlich zueinander sind.

Elisabeth Paulus, Seniorenbeirat, Erlangen

Als Elisabeth Paulus von dem Projekt Kommune Inklusiv hörte, war sie anfangs gar nicht überzeugt: „Ich dachte, nicht schon wieder ein Projekt mit Modellcharakter. Nicht schon wieder wissenschaftliche Begleitung.“ Nun sitzt Paulus doch als Vertreterin des Seniorenbeirats Erlangen in der Steuerungsgruppe des Projekts Kommune Inklusiv, denn sie ließ sich von den Mitgliedern des Seniorenbeirats überzeugen. „Dieses Projekt ist anders“, begründete Paulus ihren veränderten Standpunkt. „Hier entsteht ein nachhaltiges Projekt über einen längeren Zeitraum.“ Denn in ihrer langjährigen Arbeit in der Verwaltung machte sie die Erfahrung, dass Projekte über einen kurzen Zeitraum oft scheitern, wenn die finanziellen Mittel ausbleiben und sich die Veränderungen nach nur kurzer Dauer noch nicht etabliert haben.

Ein weiterer wichtiger Faktor für das Gelingen dieses Projekts ist, dass viele verschiedene Seiten zusammen für mehr Inklusion arbeiten wollen. „In Erlangen haben wir sehr unterschiedliche Initiativen, die wir zusammenbringen müssen“, so Paulus. Und auch Wirtschaft und Verwaltung für das Projekt Kommune Inklusiv dabei zu haben, ist entscheidend. Nur so ist es möglich, eine Veränderung zu schaffen, die auch nach den fünf Jahren des Projekts nachhaltig wirkt.

Gerhard Suder, Geschäftsführer Lebenshilfe, Soltau

Die Lebenshilfe Soltau und die Stadt Schneverdingen haben sich gemeinsam für das Projekt Kommune Inklusiv beworben. Gerhard Suder weiß, dass die beiden Städte noch viel zu tun haben: „Wir müssen die unterschiedlichen Welten der Bürger zusammenführen, die Ecken abarbeiten.“ Dies ist nicht einfach, wenn man die Vorstellungen der verschiedenen Akteure in der Verwaltung, den Kommunen, der Lebenshilfe und der Aktion Mensch vereinen will.

„Wir wollen alle Menschen auf dem Weg zur Inklusion mitnehmen“, sagte Gerhard Suder. „Flüchtlinge zum Beispiel genauso wie Menschen mit Lernbehinderung.“ Auch die Arbeitgeber sind ein wichtiges Standbein für mehr Inklusion. „Es gibt ein Gesetz, dass Arbeitgeber verpflichtet, Menschen mit Behinderung einzustellen! Konkret suchen aber noch viel zu viele Menschen mit Behinderung eine Arbeitsstelle und finden keine.“ Deswegen will Suder auch Arbeitgeber einladen, dazu beizutragen, Inklusion in der Region voranzubringen. Er möchte sie davon überzeugen, dass es ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft ist, wenn viel mehr Menschen mit Behinderung einen Job finden.

Doch nicht alles muss neu erfunden werden. So sind zum Beispiel die Kooperationsklassen in Schneverdingen ein Schritt nach vorn und sorgen für mehr Inklusion. „Schüler mit geistiger Behinderung gehen zusammen mit Schulbegleitern in Regelschulen“, berichtete Suder. „So können Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Diese Begegnungen fördern auch das gegenseitige Verständnis untereinander, von klein auf.“

Auf der Bühne: Die Moderatorin Katja Nellissen im Gespräch mit Prof. Dr. Dieter Katzenbach und Dr. Hendrik Trescher. Eine Gebärdensprachdolmetscherin übersetzt

Wie misst man Inklusion vor Ort?

Prof. Dr. Dieter Katzenbach und Privatdozent Dr. Hendrik Trescher, Goethe-Universität Frankfurt

Prof. Dr. Dieter Katzenbach und Privatdozent Dr. Hendrik Trescher lehren an der Frankfurter Goethe-Universität und begleiten das Projekt Kommune Inklusiv wissenschaftlich. Sie haben sich zu Beginn gefragt, wie man Inklusion messen kann. „Das ist nicht leicht“, sagte Trescher. „Inklusion ist ein Begriff mit verschiedenen Interpretationen. Nicht alle denken an das Gleiche, wenn sie ihn hören.“ Zudem kann man Inklusion auch nicht so einfach an einer Zahl festmachen.

Deswegen versuchten die Wissenschaftler vor Ort zu erfahren, wo es Barrieren gibt oder welche Probleme die Menschen haben. „Wir haben zum Beispiel gefragt, wer an Freizeitangeboten teilnehmen kann – zum Beispiel an einem Kurs der Volkshochschule“, berichtete Trescher. Die Wissenschaftler suchten gezielt nach Barrieren, um später feststellen zu können, ob sie abgebaut worden sind.

„Doch damit ist auch nicht die ganze Wahrheit abgebildet“, räumte Katzenbach ein. „Nehmen wir ein Beispiel aus Nieder-Olm: Im Bildungstreff können Menschen mit Lernschwierigkeiten und Geflüchtete lesen und schreiben üben. Ziel ist es, die Lese- und Schreibkompetenz zu verbessern. Dort können wir natürlich nach einem Jahr prüfen, ob die Lese- und Schreibkompetenz der Teilnehmer um eine Stufe gestiegen ist.“ Doch bei einem Bildungstreff ist auch der soziale Faktor wichtig. „Man wird dort geistig gefordert, kann Leute kennenlernen, wird ernst genommen, das Selbstwertgefühlt steigt.“ Auch das sind Werte, die Inklusion ausmachen.

Besonders wichtig ist Katzenbach, dass er und sein Kollege nicht als „Besserwisser“ wahrgenommen werden. „Wir wollen am Ende des Projekts den Beteiligten nicht nur sagen, was sie alles falsch gemacht haben, sondern auch, was gut gelaufen ist, was ein Erfolg war.“ Dazu möchten sie auch eher nicht gut messbare Fortschritte, wie am Beispiel des Bildungstreffs deutlich wurde, aufzeigen können.

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