Expertenforum „Demografischer Wandel: Chancen der Vielfalt für die Arbeitswelt“

Moderation: Stefan Burkhardt

Wenn einerseits Fachkräfte fehlen, andererseits aber die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse zunimmt: Wohin führt das und was bedeutet das für Menschen mit Behinderung oder mit Migrationshintergrund? Die Referenten gaben einen Überblick aus der Perspektive von Forschung und Praxis.

Rollen aufbrechen

Franca Schirrmacher, Koordinatorin des Projekts „Inklusiver Sozialraum Gallus“, Frankfurt am Main

Franca Schirrmacher stellte das Projekt „Inklusiver Sozialraum Gallus“ im innenstadtnahen ehemaligen Industriearbeiter-Quartier Gallus in Frankfurt am Main vor. Dessen Ziel ist es, bei der Gestaltung des demografischen Wandels mitzuwirken, indem Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte integriert, qualifiziert und in Arbeit gebracht werden. Das Projekt wird unter anderem gefördert durch die Stadt Frankfurt sowie durch Mittel des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und nukleare Sicherheit im Rahmen des Bundesprogramms Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier – BIWAQ.

Das Quartier Gallus ist gekennzeichnet durch starkes Wachstum (in sechs Jahren von 27.000 auf 37.000 Bewohner) mit hohem Anteil an Bewohnern mit Migrationsgeschichte (65 Prozent) sowie zunehmend hoher Dichte sozialer Benachteiligung. Das Gallus-Haus als Ort der Begegnung im Quartier ist ein Kooperationsprojekt der Stabstelle Inklusion der Stadt Frankfurt mit dem Trägerverein „Kinder im Zentrum Gallus e.V.“ . Kernstück ist ein Restaurant mit Geflüchteten- und Seniorencafé, das auch als Veranstaltungsort dient. Hinzu kommen viele Einrichtungen auf ehrenamtlicher und professioneller Basis, darunter eine Kindertagesstätte, Hilfen zur Erziehung, erweiterte schulische Betreuung sowie eine Kulturbrücke, die benachteiligten Kindern einen Zugang zur Hochkultur ermöglicht. Für gemeinsame Aktivitäten der Anwohner sorgen unter anderem eine Fahrradwerkstatt sowie der Gallus-Garten, in dem sich jeder am Urban Gardening beteiligen kann.

In der aktuellen Projektphase geht es vor allem darum, Langzeitarbeitslose in Beschäftigung zu bringen, darunter viele Menschen, die große Vermittlungshemmnisse haben: Menschen mit Traumatisierungen, psychischen Erkrankungen, prekärer Wohn- und Aufenthaltssituation. Der Vermittlung in Arbeit muss manchmal eine Gesundheitsförderung vorausgehen mit Stressbewältigungs-, Bewegungs- und Entspannungskursen. Einen Schwerpunkt bilden Qualifizierungsangebote, darunter auch Sprach- und Bewerbungskurse. Derzeit gibt es gute Erfolge, allerdings bleibt die Frage offen, wie die zunehmende Technisierung sich auf die Arbeitsmöglichkeiten gering Qualifizierter auswirken wird.

Nicht zuletzt gehe es bei dem Projekt auch um die Expertise und die Aktivitäten der Anwohner selbst, so Franca Schirrmacher: „Für uns bedeutet Inklusion, dass wir uns an den Ressourcen der Menschen orientieren, die das Gallus-Haus nutzen. Wir lernen auch von unseren Teilnehmern, wollen Rollen aufbrechen und die Grenze zwischen Gebenden und Nehmenden auflösen.“ Abschließend wandte sich die Referentin an die Entscheider über die Vergabe von Fördergeldern: „Wir haben gelernt, dass Projekte zwischendurch manchmal auch scheitern. Das Scheitern ist wichtig, um daraus zu lernen. Doch wer scheitert, wird nicht mehr gefördert. Das sollte man überdenken."

Unternehmen beraten

Dario Thomas, Leiter des Bereichs Fachkräftesicherung, IHK Bonn

Was bedeutet der demografische Wandel für Arbeitnehmer mit Behinderung? Welchen Beitrag leisten die IHKs für das Gelingen von Inklusion in den Unternehmen? Welches sind die Aufgaben des Fachberaters Inklusion? Diesen Fragen widmete sich Dario Thomas.

Seit einigen Jahren gibt es an mehreren Industrie- und Handelskammern in NRW einen Fachberater Inklusion. Dieser ist meist Ingenieur mit Zusatzausbildung oder war zuvor in der Behindertenhilfe tätig. Inklusionsberater sensibilisieren und beraten Unternehmen zum Thema Inklusion, stellen als Netzwerkpartner Kontakte her zwischen Unternehmen und Menschen mit Handicap. Da etwa 90 Prozent der Menschen mit Behinderung dieses im Lauf ihres Berufslebens erwerben, liegt der Schwerpunkt der Inklusionsberater in der Fachkräftesicherung: Sie beraten Unternehmer dabei, wie sie ihre Mitarbeiter mit Behinderung halten und unterstützen können, etwa in Fragen technischer Hilfsmittel, aber auch beim bürokratischen Aufwand.

„Nicht zuletzt aufgrund des demografischen Wandels ist es in Bonn-Rhein-Sieg schwer, Fachkräfte zu bekommen. Und wenn die Unternehmen nicht mehr genau die Fachkräfte finden, die sie suchen, dann müssen sie umdenken“, erklärte Dario Thomas. Insofern eröffnet der demografische Wandel eine Chance für Menschen mit Behinderung und Menschen mit geringer Qualifikation, die sonst von vielen Unternehmern nicht berücksichtigt würden. Dario Thomas: „Die meisten Unternehmer sind für das Thema Inklusion sehr offen, wenn sie einmal von der Idee, eine, fertige Fachkraft‘ zu finden, abgekommen sind.“ Deswegen bietet die IHK neuerdings Demografie-Sprechstunden und Fachkräfteberatungen an, in denen Unternehmer erfahren, wie sie ihre Mitarbeiter qualifizieren können und dass sie zum Beispiel auch in Teilzeit ausbilden können.

Zum Schluss richtete Dario Thomas einen Appell an die Anwesenden: „Wenn Sie in ihren Projekten vor Ort Arbeit für Projektteilnehmer suchen: Es gibt in den Kammern immer Ansprechpartner, in einigen auch Inklusionsberater als Lotsen für Unternehmer. Man muss dieses Angebot nur nutzen."

Lebenswelten vermitteln

Dr. Jan Wulf-Schnabel, Geschäftsführer des Instituts für inklusive Bildung, Kiel

Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung arbeiten als Hochschuldozenten – Jan Wulf-Schnabel berichtete von einem Projekt, das Schule macht.

„Wir diskutieren Inklusion oft als Herausforderung für Menschen mit Behinderung“, sagte Jan Wulf-Schnabel. „Aber es ist in der Regel eine Herausforderung für Menschen ohne Behinderung. Die müssen erst viel lernen.“ Dafür ist das Institut für Inklusive Bildung in Kiel der richtige Ort. Es entwickelt und realisiert Bildungsangebote von und mit Menschen mit Behinderung. Qualifizierte Bildungsfachkräfte mit Behinderung vermitteln (künftigen) Lehr-, Fach- und Leitungskräften auf Augenhöhe ihre Lebenswelten, Bedarfe und spezifischen Sichtweisen. Die Themenbereiche umfassen die gesamte Spannbreite des Lebens: Ausbildung, Wohnen, Arbeit, Kultur, Freizeit, Familie, Gesundheit. Neben regelmäßigen Lehr-Veranstaltungen finden Workshops statt. Auch die gesamte Spitze des Landes Schleswig-Holstein nahm an einem eintägigen Workshop teil.

Die Qualifizierung von Beschäftigten aus geschützten Werkstätten zu Bildungsfachkräften an Universitäten und Fachhochschulen dauert drei Jahre in Vollzeit. Sie ist personenzentriert und kompetenzorientiert aufgebaut. Für Menschen mit Behinderung wird so eine Bildungsqualifizierung ermöglicht. Studierende und andere Zielgruppen erhalten neue Einblicke in Anwendungsorientierung und Praxis an der Hochschule. „Die persönliche Entwicklung der Teilnehmer in diesem Prozess ist unbeschreiblich“, so Jan Wulf-Schnabel.

Nach seinem Start als Modellprojekt mit Förderung durch die Aktion Mensch wird das Institut inzwischen vom Wissenschafts-Etat der Landesregierung Schleswig-Holstein finanziert. Weitere Standorte sollen folgen. Zurzeit findet ein zweites Projekt am Hochschulstandort Heidelberg statt. „In den nächsten fünf Jahren wollen wir 60 Qualifizierungsplätze an zehn Hochschulstandorten in Deutschland aufbauen, darunter Köln und Bochum. Außerdem haben wir mittlerweile mit 60 Hochschulen aus dem In- und Ausland Kontakt“, berichtete Jan Wulf-Schnabel.

Im Rahmen seines Vortrags zeigte Jan Wulf-Schnabel einen Film, der Einblicke in die Arbeit am Institut für Inklusive Bildung gewährt:

Film ansehen

Stereotype bewusst machen

Prof. Dr. Bertolt Meyer, Organisationspsychologe, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Psychologie, TU Chemnitz

Bertolt Meyer beschäftigte sich mit den Chancen des demografischen Wandels für Arbeitnehmer mit Behinderung und zeigte, welches Haupthindernis bei der Verwirklichung von Inklusion in der Arbeitswelt zu überwinden ist.

Aus der Tatsache, dass unsere westlichen Industriegesellschaften immer vielfältiger werden, leitete Bertolt Meyer verbesserte Arbeitsmarkt-Chancen ab für Menschen mit Behinderung oder Zuwanderungsgeschichte und für ältere Arbeitnehmer. Die Unternehmen müssen künftig einen erweiterten Kreis potenzieller Mitarbeiter ansprechen und auch besondere Ausbildungsgänge anbieten, um ihre Stellen besetzen zu können. Aus wissenschaftlicher Sicht ist erwiesen, dass unterschiedliche Mitarbeiter mit unterschiedlicher Sicht auf die Dinge zu besseren Problemlösungen gelangen können. Wenn Mitarbeiter vom Nutzen der Diversität überzeugt sind, führt diese auch zu höheren Leistungen. Um diese Erkenntnis zu verbreiten, muss in den Unternehmen Überzeugungsarbeit geleistet werden.

Als größtes Hindernis für das Gelingen von Inklusion nannte Bertolt Meyer Stereotypen, die er als gesellschaftlich geteilte Meinungen über Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen von Mitgliedern einer sozialen Gruppe definierte: „Wir merken uns, in welche Schublade ein Mensch angeblich gehört und ziehen von da Rückschlüsse auf den einzelnen.“ Zur Bildung von Stereotypen gehört, dass Menschen beim Erstkontakt häufig als kompetent und zugleich kalt/arrogant oder als weniger kompetent und zugleich warm/umgänglich eingestuft werden. Viele empirische Untersuchungen belegen, dass Menschen mit Behinderung oft als nett und umgänglich, aber nicht besonders kompetent eingeschätzt werden – ohne dass dies auf konkreten Erfahrungen mit diesen Menschen beruht.

Bertolt Meyer schloss seinen Vortrag mit der Aufforderung: „Wir sollten uns bewusst machen, dass wir uns von Stereotypen beeinflussen lassen, und darauf achten, dass sie nicht unser Verhalten leiten.“