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Barrierefreiheit im ÖPNV – Wunsch oder Realität?

Agnes steigt in die Bahn.

Busse, U-Bahnen und Straßenbahnen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) sollen seit Anfang 2022 barrierefrei zugänglich sein – und zwar überall in Deutschland. So verlangt es das Personenbeförderungsgesetz. Die Wirklichkeit in Sachen Barrierefreiheit im ÖPNV sieht jedoch an vielen Orten anders aus. Wir haben nachgefragt, woran das liegt und was die Verantwortlichen für die Erfüllung des Gesetzes tun.

Das Gesetz lässt Spielräume

Das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) enthält zwar schon seit 2013 die Formulierung, dass „für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen“ sei. Doch dieser Termin ist mittlerweile verstrichen, und die Forderung ist noch längst nicht überall erfüllt. Verantwortlich für die Umsetzung sind im Wesentlichen die kreisfreien Städte und Landkreise als ÖPNV-Aufgabenträger. „Das Gesetz enthält genau genommen jedoch nur eine Planungsverpflichtung“, betont Dr. Markus Brohm, der Verkehrsreferent des Deutschen Landkreistages. „Die Kommunen müssen das Ziel der Barrierefreiheit in ihrem Nahverkehrsplan, der etwa alle fünf Jahre aufgestellt wird, berücksichtigen. Dieser Plan ist jedoch nicht verbindlich. Insbesondere bindet er weder Genehmigungsbehörden noch andere Baulastträger. Das ist gerade auch im kreisangehörigen Raum eine Herausforderung.“

Gleichwohl halten Fachleute die PBefG-Regelung für wirkungsvoll. „Die Kommunen sind nun verpflichtet, genau zu definieren, was sie sich unter vollständiger Barrierefreiheit für Bus und Bahn vorstellen. Falls sie in der Nahverkehrsplanung Ausnahmen zulassen, die nicht barrierefrei sind, müssen sie auch begründen, warum das so ist“, erläutert Hartmut Reinberg-Schüller, Fachbereichsleiter Betrieb ÖPNV, Arbeits- und Verkehrsmedizin im Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

Zu wenig Geld und Personal für barrierefreien Umbau

Gründe, warum der Nahverkehr das Ziel der vollständigen Barrierefreiheit im ÖPNV noch längst nicht erreicht hat, gibt es allerdings viele. Einer der wichtigsten davon: Der Umbau von Haltestellen und die Anschaffung von neuen Fahrzeugen kostet viel Geld. „Barrierefreiheit gibt es nicht zum Nulltarif. Der Bund hat im PBefG für die Nahverkehrsplanung das Ziel der Barrierefreiheit verankert, aber dafür im Gegenzug keine Finanzmittel bereitgestellt. Er ging davon aus, dass Barrierefreiheit bis 2022 im Rahmen der regulären Investitionszyklen von allein erreicht wird. Das war ein Trugschluss. Es gibt zu wenig finanzielle Förderung vom Bund und von den Ländern, mit denen die Kommunen den barrierefreien Ausbau ihres Mobilitätsangebotes vorantreiben können“, argumentiert Markus Brohm vom Deutschen Landkreistag.

Neben dem Geldmangel gibt es ein weiteres strukturelles Problem: Die Verwaltungen haben zu wenige Mitarbeitende, die sich der Planung des barrierefreien Nahverkehrs widmen können. „Pro Jahr bewältigt eine Kommune daher nur den barrierefreien Umbau einer eingeschränkten Zahl von Bushaltestellen“, erklärt Jan Strehmann, der Referatsleiter Mobilität, Wirtschaftsförderung, Tourismus, Regionalpolitik des Deutschen Städte- und Gemeindebundes.

Umgebaut wird einer nach dem anderen

Die Folge: Die Kommunen müssen Prioritäten setzen. „Bevorzugt werden die Verkehrsknotenpunkte barrierefrei ausgebaut, wo besonders viele Menschen mit dem ÖPNV unterwegs sind“, sagt Thomas Kiel, der Verkehrsreferent des Deutschen Städtetages. Stationen, an denen der Umbau besonders aufwendig ist – zum Beispiel bei einem alten U-Bahnhof aus den 1920er-Jahren – oder wo nur wenige Menschen zu- und aussteigen, kommen dagegen erst später an die Reihe. Viele groß angelegte Sanierungsprogramme stehen noch aus, weil auch die anderweitige Neu- und Ausbauförderung erst seit 2019 wieder aufgestockt wurde. Thomas Kiel beurteilt die Entwicklung der Barrierefreiheit im ÖPNV dennoch positiv: „Es wurde in den vergangenen Jahren sehr viel erreicht. Das Glas ist halb voll“, sagt er.

Viel Altbestand bei den Haltestellen

Wenn heutzutage ein neuer U-Bahnhof oder eine neue Bushaltestelle gebaut wird, ist die Ausführung grundsätzlich barrierefrei. Doch solche Neubauten und somit barrierefreie Haltestellen sind selten. Zum Stationennetz des öffentlichen Nahverkehrs zählen deutschlandweit mehr als 215.000 Bushaltestellen und ca. 6.000 U-Bahnhöfe. Der überwiegende Teil dieser Bauten ist Altbestand. Dort müssen zum Beispiel Bordsteine angehoben und Spaltenbreiten zwischen Waggontüren und Bahnsteigen korrigiert werden. Nur so kann der barrierefreien Zugang für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen ermöglicht werden. Während die Baulastträger der Straßen für den Umbau der Bus- und zumeist auch der Straßenbahnhaltestellen verantwortlich sind, ist die Modernisierung der U-Bahnen meist eine Sache der Verkehrsunternehmen.

„Umgebaut werden die Stationen in der Regel im laufenden Betrieb, was die Planung besonders aufwendig macht“, sagt der VDV-Experte Hartmut Reinberg-Schüller. Was die Aufgabe zusätzlich verkompliziere: Manche Stationen werden von mehreren Verkehrsunternehmen mit unterschiedlichen Fahrzeugtypen angefahren. Das mache es schwierig, die Bauweise für alle Fahrzeuge passend zu gestalten. Bahnhöfe für S-Bahnen, Regional- und Fernzüge gehören übrigens nicht zum ÖPNV – dort ist die Deutsche Bahn zuständig. Das bedeutet: Dort gilt nicht das Personenbeförderungsgesetz, sondern die Eisenbahnbau- und Betriebsordnung (EBO). Diese verpflichtet Eisenbahnbetreiber, „Programme zur Gestaltung von Bahnanlagen und Fahrzeugen zu erstellen, mit dem Ziel, eine möglichst weitreichende Barrierefreiheit für deren Nutzung zu erreichen“. Anders als im ÖPNV gilt dort die sogenannte De-minimis-Regel: Ausgebaut werden Bahnhöfe mit mehr als 1.000 Ein- und Ausstiegen am Tag.

Noch viele Hochflurbusse unterwegs

Studie zu Barrieren in Bus und Bahn
Der Verkehrsclub Deutschland e.V. untersucht in seinem Bahntest 2023/24, auf welche Barrieren Menschen bei der Fahrt mit Bus und Bahn stoßen und formuliert konkrete Forderungen zur Verbesserung der Mobilität von Menschen mit Behinderung. 

„Bei den meisten U-Bahnen und Straßenbahnen ist der barrierefreie Einstieg inzwischen möglich“, berichtet Hartmut Reinberg-Schüller. „Mehr Modernisierungsbedarf gibt es jedoch bei den Busflotten im ländlichen Raum.“ Allerdings würden hier verbindliche Vorgaben zur barrierefreien Fahrzeugarchitektur fehlen. Nur für Stadtbuslinien seien Niederflurbusse vorgeschrieben. Deren ebener Eingangsbereich kann so abgesenkt werden, dass der Zustieg für Menschen im Rollstuhl oder zum Beispiel mit einem Kinderwagen erleichtert wird. Im Nahverkehr außerhalb der Städte dagegen seien noch Hochflurbusse unterwegs, in die Fahrgäste über mehrere Stufen einsteigen müssen. „Die Verkehrsunternehmen können barrierefreie Fahrzeuge erst dann anschaffen, wenn die Flotte ohnehin modernisiert wird“, sagt Reinberg-Schüller. Das sei bei Bussen zyklusmäßig nach etwa zehn Jahren der Fall.

Der Einsatz von barrierefreien Fahrzeugen setze allerdings immer voraus, dass die passende Infrastruktur vorhanden ist. Wenn beispielsweise an einer Haltestelle ein niedriger Bürgersteig auch noch zu schmal sei, um eine Rampe auszuklappen, könnten unter Umständen auch Niederflurbusse keinen barrierefreien Ein- und Ausstieg bieten. Ähnliche Probleme gibt es an manchen Orten mit dem Zugang zu den Haltestellen: Solange der Weg dorthin nicht barrierefrei ist, hilft der Umbau der Station nicht allen Menschen.

Beine und Füße mehrerer Menschen, die aus der Straßenbahn aussteigen.

Mehr Orientierung an den Stationen

Wer den ÖPNV nutzen möchte, benötigt an den Haltestellen viele Informationen zur Orientierung. Unter anderem: Wann kommt das nächste Fahrzeug? Um welche Linie handelt es sich? Von welcher Position der Haltestelle aus ist der barrierefreie Zustieg möglich? Barrierefreiheit setzt voraus, dass solche Informationen nach dem Zwei-Sinne-Prinzip verfügbar sind. Zum Beispiel kann der Boden einer Bushaltestelle mit einem Leitsystem gestaltet werden: Menschen mit einer Sehbehinderung spüren dann an der Oberflächenstruktur des Bodens, von welcher Stelle aus sie in den Bus einsteigen müssen. Damit wissen sie aber noch nicht, welche Buslinie vor ihnen hält. Vor allem an Mehrfachhaltestellen, wo viele Bus- oder Bahnlinien in enger Taktung und gegebenenfalls auch gleichzeitig hintereinander halten, ist dies eine große Schwierigkeit. Deshalb sind zusätzliche akustische Informationen notwendig. Dabei stellt sich die technische Herausforderung, dass die Ansagen einerseits verständlich wahrnehmbar sein müssen, aber andererseits nicht so laut, dass Anwohnende durch Lärm gestört werden. „Optimalerweise kommuniziert das Fahrzeug selbst mit den Fahrgästen, vorzugsweise über ein mobiles Endgerät. Dafür gibt es aber noch keine technologische Standardlösung“, erläutert der VDV-Experte Hartmut Reinberg-Schüller. Ihm zufolge testen bisher nur wenige Nahverkehrsunternehmen barrierefreie Orientierungssysteme nach dem Zwei-Sinne-Prinzip.

Das Zwei-Sinne-Prinzip: in 30 Sekunden erklärt

Routenplanung bleibt aufwendig

Schon für die Planung ihrer Route im ÖPNV sind Menschen mit Einschränkungen auf viele Informationen angewiesen, um nicht unterwegs auf unüberwindliche Hürden zu stoßen. Diese Informationen müssen stets aktuell sein. Es stellen sich viele Fragen wie zum Beispiel:

  • Welche Nahverkehrslinien sind barrierefrei ausgebaut?
  • Welche Besonderheiten am Fahrzeug sind für Menschen mit Behinderungen zu beachten?
  • Sind zum Beispiel die Aufzüge an der Start- und an der Zielstation aktuell in Betrieb?

Gerade bei Fahrten mit mehreren ÖPNV-Anbietern ist es schwierig, alle notwendigen Informationen aus verschiedenen Onlineangeboten zu recherchieren. Eine Verordnung der Europäischen Union verpflichtet alle Mitgliedsstaaten, einen nationalen Zugangspunkt zu schaffen, über den elektronische Daten der öffentlichen und individuellen Verkehrssysteme bereitgestellt werden. „Eine solche Plattform entsteht zurzeit: der Mobility Data Space“, berichtet Thomas Kiel, der Verkehrsreferent des Deutschen Städtetages. Ab Mitte des Jahres müssen Verkehrsunternehmen und Vermittler auch Echtzeitinformationen und Störungsmeldungen bereitstellen. Es wird aber noch einige Zeit brauchen, bis Informationen über verschiedene Plattformen – über die Informationen des Verkehrsunternehmens hinaus – für die Bürger*innen verfügbar sind.

Betroffene müssen einbezogen werden

„Der barrierefreie Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs kommt der gesamten Gesellschaft zugute“, ist Markus Brohm, der Verkehrsreferent des Deutschen Landkreistages, überzeugt. „Nicht nur für Menschen mit Einschränkungen ist dies eine Hilfe, sondern zum Beispiel auch für Familien mit Kinderwagen oder für Reisende mit Gepäck.“

Hartmut Reinberg-Schüller vom Verband der Verkehrsunternehmen bemängelt allerdings, dass in den Nahverkehrsplänen zur Barrierefreiheit bisher die Bedürfnisse von Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen nicht ausreichend mit bedacht werden können. Der Grund: Für deren Anforderungen an die Barrierefreiheit gibt es noch keine ausreichenden „Regeln der Technik“. Aus seiner Sicht gebe es keine einheitliche Form von Barrierefreiheit, die für alle Menschen gleichermaßen dienlich sei. Menschen mit Behinderung haben unterschiedlichste Beeinträchtigungen, die zum Teil auch gegensätzliche Anforderungen an die Barrierefreiheit im ÖPNV stellen. Vielmehr sei es daher sehr wichtig, dass möglichst viele unterschiedliche Perspektiven der Betroffenen vor Ort in die Planungen der Kommunen und Verkehrsträger einfließen. Im Personenbeförderungsgesetz steht deshalb auch ausdrücklich: „Soweit vorhanden sind Behindertenbeauftragte oder Behindertenbeiräte, Verbände der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Fahrgäste und Fahrgastverbände anzuhören. Ihre Interessen sind angemessen und diskriminierungsfrei zu berücksichtigen.“

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